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Literatur Düstere Zukunftsvisionen

Der neue Roman „Das Herz kommt zuletzt“ der Kanadierin Margaret Atwood führt in eine absurde Zukunft.

Von Axel Knönagel 21.06.2017, 23:01

Berlin (dpa) l Nordamerika, irgendwann in der näheren Zukunft. Für Erfolgsautorin Margaret Atwood, vor wenigen Tagen mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet, ist dies eine Projektionsfläche, um aufzuzeigen, wie sich die amerikanische Gesellschaft entwickeln könnte. Dabei lässt sie ihrer Fantasie freien Lauf und schafft ein spannendes, zugleich aber auch absurdes Szenario.

Im Mittelpunkt ihres neuen Romans „Das Herz kommt zuletzt“ steht das Ehepaar Stan und Charmaine. Beide genossen vor einer Wirtschaftskrise, die sehr an die des Jahres 2008 erinnert, eine beschauliche bürgerliche Existenz. Aber davon ist nichts geblieben. Inzwischen leben sie in ihrem Auto, ständig in Angst, auch diesen letzten Rest Eigenständigkeit und auch Würde an herumstreunende Banden zu verlieren. Atwood stellt diese Passagen sehr realistisch dar.

Das Leben des Paars ändert sich, als es auf ein Experiment aufmerksam wird, für das Teilnehmer gesucht werden. Dabei wird ihnen genau das versprochen, was sie verloren haben: „Erinnern Sie sich noch, wie Ihr Leben mal war? Bevor die Welt, wie wir sie kannten, auseinanderbrach? Beim Positron-Projekt in der Stadt Consilience kann es wieder so sein wie früher. Helfen Sie, die Probleme unseres Landes zu lösen und gleichzeitig Ihre eigenen Probleme zu lösen.“

Die beiden nehmen das Angebot an und geben somit ihrem Leben eine ganz merkwürdige Wendung. Das Arrangement, auf das sie sich einlassen, ist abenteuerlich. Sie führen praktisch zwei unterschiedliche Leben, die sich monatlich ablösen. Einen Monat lang leben sie in einem kleinen Häuschen, gehen zur Arbeit und genießen einen kleinbürgerlichen Lebensstil. Nach einem Monat müssen sie ihre Sachen packen und für einen Monat in ein nicht sonderlich bedrückendes Gefängnis gehen. Danach geht es wieder zurück in die Bürgerlichkeit.

So seltsam dieses Arrangement auch ist, die realistische Darstellung der Anfangsszenen sorgt dafür, dass auch diese Szenerie erst einmal glaubhaft erscheint. Aber das ändert sich bald. Das Paar hat einen Gegenpart, der in seinem Haus wohnt, wenn es selbst im Gefängnis ist, und das in ihrer Zelle sitzt, wenn Stan und Charmaine im Häuschen leben. Die beiden Paare begegnen einander nie, aber sie wissen von ihrer Existenz.

Atwood forciert die Handlung, indem sie ihren beiden Hauptfiguren eine Obsession mit dem anderen Paar zuschreibt. Als dann auch noch in der Verwaltung Fehler gemacht werden und Stan auf einmal die andere Hausbewohnerin trifft, über die er sich schon viele, vor allem sexuelle Fantasien ausgedacht hat, ist auf einmal nichts mehr so, wie Stan und Charmaine es erwartet hatten.

Die scheinbare Ordnung der Gesellschaft im Positron-Projekt löst sich in kürzester Zeit auf. Gleichzeitig wandelt sich der Charakter der Erzählung. Der Roman wird zu einer Farce über Menschen, die ihrer sozialen und moralischen Richtlinien beraubt wurden, mit Sexrobotern, die aussehen wie Elvis Presley oder Marilyn Monroe, und Gerüchten über Mord und Organhandel, die die neue Gesellschaftsordnung erst möglich machen.

Die Ernsthaftigkeit der Zukunftsvision, die so typisch für Atwoods „Report der Magd“ war, ist in „Das Herz kommt zuletzt“ kaum noch vorhanden. Die Grundidee, dass privates Glück nur durch die Aufgabe von Selbstbestimmung möglich sein könnte, wird von abstrusen Gags und schwarzem Humor überdeckt.

Margaret Atwood, Jahrgang 1939, ist seit Jahrzehnten eine der anerkanntesten Schriftstellerinnen Kanadas. Ihr erster Roman „Die essbare Frau“ erschien 1969. In Romanen wie „Die Unmöglichkeit der Nähe“, „Verletzungen“ und „Katzenauge“ erwies sie sich als Meisterin des psychologischen Dramas.

„Das Herz kommt zuletzt“ ist als Hardcover im Piper-Verlag für 22 Euro erschienen.