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Festtage zur regionalen Musikgeschichte Magdeburgs mit einer Uraufführung des Komponisten und Musikers Stefan Poetzsch Eine Collage voller Erinnerungen in atemberaubender Dichte

Von Eberhard Löblich 02.11.2011, 04:24

Magdeburg l "unnötig" - scheinbar harmlos, unverfänglich kommt der Titel der Performance daher. Und auch die ersten Takte, die Stefan Poetzsch seiner Violine entlockt, wirken geradezu lyrisch. Eine trügerische Idylle. Denn schon fällt das Hauptinstrument ein, eine elektronisch zugespielte Klang- und Wortcollage, die zunehmend Entsetzen, Verstörung und Beklemmung hervorruft.

Poetzsch erinnert sich in dieser Collage an seine mehr als einjährigen Haft in der Magdeburger MfS-Untersuchungshaft am Moritzplatz. Mal in ganzen Gedankengängen, mal reduziert lediglich auf einzelne Satz- oder Wortfetzen. Er reflektiert, philosophiert, stellt Fragen. In seine eigenenen Worte fließen Passagen eines Gespräches ein, das er mit dem chinesischen Dichter, Künstler und Dissidenten Liao Yiwu geführt hat, sowie ein Gedicht der Tänzerin Bettina Essaka mit dem Titel "Versöhnung". Aus diesen Elementen entsteht eine Collage von geradezu atemberaubender Dichte, die Poetzsch live mit Violine und Viola begleitet.

Der Musiker und Komponist lässt seine Instrumente mal schreien, mal wimmern, mal lässt er seinen Bogen fast ratlos über die Saiten gleiten, erzeugt Töne und Akkorde, die er gleichsam hilflos im Raum stehen lässt. Überhaupt, dieser Raum: Diese Uraufführung findet im ehemaligen Verhörtrakt des einstigen Gefängnisses statt. Ein langer schmaler Flur, dessen Wände sich im Verlauf dieses Abends immer mehr auch auf die Zuschauer zu bewegen scheinen, was die Beklemmung noch verstärkt.

Nicht zuletzt Bettina Essaka: die Tänzerin und Choreografin setzt Klangcollage und Instrumentalspiel congenial in Bewegung um, wobei ihr Tanz mal Kontrapunkt zu den beiden anderen Elementen ist, mal verbindendes Glied darstellt. Sie verwendet dabei eine ganz eigene Tanzssprache, die entfernt an den Ausdrucktanz erinnert. Beeindruckend, wie sie ihren Körper in einem Moment, in dem Poetzsch von der speziellen Klopfsprache spricht, mit dem sich die Häftlinge in ihren Einzelzellen untereinander verständigten, fast völlig zurücknimmt. Sie lässt nur noch ihre Hände tanzen, die Zellenwand und klopfende Faust zugleich sind. Auch Essaka hat ihre Erfahrungen mit der Haftanstalt Moritzplatz. Sie kam allerdings nach einem sechsstündigen Verhör überraschend wieder frei. "Am schlimmsten war die Ungewissheit", sagt sie später an diesem Abend, der für das Publikum noch ein weiteres Highlight im Rahmen dieser Festtage zur regionalen Musikgeschichte Magdeburgs bereithält: das abendliche Konzert mit dem Stefan-Poetzsch-Ensemble im Kulturzentrum Moritzplatz.