Von Martin Meißner Einschulung
Unsere Familie hatte Glück. Emma kam in eine Klasse mit überwiegend netten Eltern. Und sie waren nicht nur nett, sondern an der Beschulung ihrer Kinder sehr interessiert. Alles in allem sehr offen, ohne direkt gleich alternativ zu sein. Das zeigte sich im Vorfeld schon. Erreichte bei der Einschulung eine Art Höhepunkt und würde sich auch im Schulalltag später kaum ändern.
Dass die Eltern vernünftige Ansichten hatten, nicht überdreht, aber auch nicht direkt zurückgewandt, bewies sich schon in den Namen der Kinder. Es dominierte Aussprechliches mit einem Hang zum Traditionellen. Paul gab es gleich dreimal, dazu Gustav, Hermann und Friederich. Bei den Mädchen kamen Anna, Minna, Ludmilla, Meta und in unserer Familie eben Emma vor. Dass ein Zwillingspaar aus Kayla-Lee und Scarlett Zoe bestand und ein Junge Humphrey Lewin Schulz hieß, schadete dem Gesamteindruck nur minimal.
Die Einschulungsfeier spielte im Denken der Eltern die ihr zustehende Rolle. Aber wert wurde auf sehr Normales gelegt. Und der Vorschlag, vom Festsaal zur Schule mit einer Pferdekutsche zu fahren, wurde scharf abgelehnt, da kaum ein Kind später täglich mit einem Pferd zum Unterricht kam.
Den Mittelpunkt der Betrachtung nahm immer mehr die Schultüte ein. Einig war man sich schnell, dass es im Kindergarten auf keinen Fall die übliche kleine Abschiedstüte gab. Bloß keine Inflation. Bestätigt wurden die vernünftigen Eltern noch durch einen Psychologen, der in einem Vortrag über den Inhalt einer ausgewogenen Schultüte sprach. Nicht überdimensioniert dürfte sie sein. Und vor allem diente sie dem Kind als Signal, wie lieb es die Eltern hatten. Ein kleiner Ball zum Beispiel konnte zeigen, dass die zerschossene Fensterscheibe beim Nachbarn vergessen und vergeben war. Schokolade sollte gern mal durch einen Vollkornriegel ersetzt werden. Dazu aus dem eigenen Garten eine Möhre und frisches Obst. Und gut tat der, der die Spitze mit Zeitungspapier füllte. Mit Spielzeug sollte man sehr zurückhaltend sein. Wenn schon, dann aus Holz oder ähnlichem Naturmaterial.
Wie sich das Wissen des Psychologen im wirklichen Leben bewährte, zeigte sich in der Klasse, nachdem jeder seinen Platz kannte und ausprobiert hatte und die Inspektion der Schultüten begann. Erster Verzehr also und Spiel.
Und da nun trat etwas ein, das so nicht vorauszusehen war. Die Kinder rollten ihre Schultüten über den Boden und von sich fort. Sahen die von Humphrey Lewin Schulz, weil sie die bunteste war und riesengroß. Und weil sie auch noch zu hören war, bildete sie den Mittelpunkt und zog alles an. Ein iPod war es, der dieser Schultüte die Stimme verlieh. Und unter Schokolade vergraben an der Seite von einem Handy und einem Rennauto mit Hilfe der anderen Kinder nach draußen kam. Dank der Musik aus dem iPod fachte sich bald die beste Stimmung an. Von der auch Humphrey Lewins Oma nicht ausgeschlossen war. Da der Enkelsohn mit seinem Handy Bilder machte und sie sofort an die Großmutter übertrug.
Während die anderen Eltern die Schultüten vom Boden aufnahmen, löste sich die Traube um Humphrey Lewin nur sehr zögernd auf. Es gab schon ein regelrechtes Klassenkollektiv. Was uns Emma auf dem Heimweg bewies, indem sie die Namen der Mitschüler bereits kannte. "Warum habt ihr mich eigentlich Emma genannt?", fragte sie dabei, den Mund noch ganz mit Humphrey Lewins Schokolade verschmiert.
"Kayla-Lee und Scarlett Zoes Eltern sind nicht so hinter dem Mond."
Martin Meißner ist Schriftsteller und lebt in Sachsen-Anhalt.