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Festival Jazzige Grenzgänger

Hinter den Klostermauern von Jerichow fand am Wochenende zum zweiten Mal ein dreitägiges Jazzfestival statt. Ein Besuch am heißen Samstag.

Von Grit Warnat 17.08.2020, 01:01

Jerichow l Marco Reiß, künstlerischer Leiter des Jazzfestivals im Kloster, war am schwül-heißen Samstagnachmittag die Anspannung anzumerken. Da ging der Blick immer mal zum Himmel. Partiell waren Unwetter angekündigt. Abends dann, als es dunkel wurde, der Turmfalke seine Kreise vorbei an den mächtigen Kirchtürmen der Klosteranlage zog, und Till Brönner sich vor einem begeistert applaudierenden Publikum verneigte, fiel diese Festival-Organisations-Nervosität von Reiß ab.

Der Himmel blieb blau. Brönner, der große Könner an der Trompete, hatte sein Spiel hinter sich. Es war sein erstes Konzert nach dem Lockdown, verriet er und sagte: „Ich bin so happy.“ Wer auf der weiten Klosterwiese saß, meinte, an diesem Abend eine besondere Spielfreude zu verspüren. Auch bei Brönners Begleitern. Die darbten ebenso in den vergangenen Monaten. Endlich wieder Bühne.

Dieter Ilg, der Echo-Preis-gewöhnte Bassist, hatte mit dem Franzosen Patrice Héral am Schlagzeug und dem Schweden Daniel Karlsson am Piano bereits an diesem heißen Nachmittag einen Auftritt. Beethoven (250. Geburtstag) traf da musikalisch auf Bach (270. Todestag). Vor allem aber traf das Ilg-Trio auf die beiden großen Komponisten. Deren Werk ist für den Grenzgänger Ilg seit Jahren Inspiration. Er verjazzt nicht. Er formt es gemeinsam mit seinen Begleitern für seinen Kammerjazz so um, dass musikalische Epochen kaum mehr wahrnehmbar sind.

Die Gäste hatten sich ihre Stühle geschnappt und unter den Bäumen ein schattiges Plätzchen gesucht. Abends, als Brönner auf die Bühne kam, waren 900 Leute auf der Wiese, mehr als vor einem Jahr und etwas weniger als die Corona-Verordnung vorgibt. Da ist bei 1000 Schluss.

Lange Zeit stand das Festival auf der Kippe. Landauf, landab wurde vieles der großen Corona-Unsicherheit wegen abgesagt. Als die 1000er Zahl aber in der Landesverordnung festgelegt wurde, stand für die Organisatoren fest: Wir ziehen das Festival durch. Nur sechs Wochen blieben für die Vorbereitung. Kloster-Stiftungs-Vorstand Roland Maiwald erinnerte, wie eng bemessen diese Zeit war. Das Publikum dankte bei seinen Worten mit Beifall, weil es kulturell ausgehungert ist.

Marco Reiß setzte auf die musikalischen Zugpferde des vergangenen Jahres. Bolero Berlin am Freitag, Ilg und Brönner am Sonnabend, Magnus Lind­gren und Esther Kaiser am Sonntag. Neben den Hochkarätern auch wieder Auftrittsmöglichkeit für das Jugendjazzorchester Sachsen-Anhalt, den Nachwuchs, der solche Auftritte brauche, wie Brönner im Konzert lobte. Er selbst habe mal so angefangen. Mit Musik, die nach wie vor Nische ist.

Wer Jazz mag, kennt selbstverständlich Brönner und Ilg, weiß um deren gemeinsames Arbeiten. Seit mehr als 20 Jahren gehen sie immer wieder zusammen Wege. Aber Brönner und das Trio in dieser Besetzung gab es nun erstmals zu hören. „Wir lassen uns treiben mit Ihnen zusammen“, sagte der 49-Jährige zum Publikum.

Das saß auf den Stühlen und auf Decken, ging nicht mal Getränke-Nachschub holen. Man wollte nichts verpassen vom Spiel auf der minimalistischen Bühne. Kein Firlefanz, es ging nur um (Kammer-)Musik: Leonhard Cohen, der große Singer-Songwriter, Beatles-Adaptionen wie den Klassiker „Eleanor Rigby“, Eigenkompositionen. Brönner, zweifelsohne der Star des Abends, ließ keine One-Man-Show zu. Allen Instrumenten blieb Solo-Spielraum und eigene Aufmerksamkeit. Da erfuhr man die Exzellenz, den Perfektionismus jedes Einzelnen im Trio. Brönner sprach vom „magischen Dreieck“.

Zu später Stunde, als die Nacht aufzog über Jerichow, kam Wind auf, Geröll fiel am Berg, ein Alphorn erklang, es wurde düster – wie Geräuschimitatoren agierten Brönner, Ilg und Karlsson bei „Wetterstein“. Dann gab es auch das wunderbar zum Ort passende Kirchenlied „Ach bleib mit deiner Gnade“. Mystisch wurde es innerhalb der Klostermauern und man schaute, ob nicht die einst hier ansässigen Mönche um die Ecke kommen.

Die Störche auf dem Schornstein im Klostergarten schauten zum Schluss den ziehenden Menschen nach. Wenn die großen Vögel im nächsten Jahr hier wieder nisten, gibt es hoffentlich die dritte Auflage des Jazz-Festivals. Vielleicht zieht es Till Brönner erneut in dieses besondere Ambiente. Oder kann man ihn vorher noch einmal begeistern für einen Talk rund um die Frage, was uns Kunst in diesen Krisenzeiten bedeutet? Dass er dazu einiges zu sagen hätte, deutete er beim Konzert schon an.