Von F.-René Braune Homo Salutaris oder: Alles Liebe
Es war einer der Tage, an denen man sich am liebsten schon mittags die Bettdecke über den Kopf ziehen und der Welt ein resigniertes "Leb wohl …" zuraunen möchte. Gestern noch hatte das Hochdruckgebiet "Waldemar" mit seinen 32 Grad im Schatten meine 86 keimenden Mohnpflänzchen verdorren lassen, heute prasselte ein höhnisch klingender Dauerregen an meine frisch geputzten Scheiben. Ein klingelndes Telefon fiel meinem Trübsinn in den Rücken. Mein Freund Harald würde bei einem Tässchen Tee mit Rum gern mal meine Meinung hören. Die Tassen könnte er mitbringen.
Als wir zehn Minuten später unter dem überdachten Teil meiner Terrasse saßen, begann mein Freund zu erklären: Er habe von einem Bürgermeister gehört, der dafür sorgen wolle, dass sich alle Bewohner seines Städtchens grüßen, ganz gleich, ob sie sich kennen oder nicht. "Ist das nicht eine grandiose Idee?", begeisterte sich Harald, "stell dir vor, du könntest jeden Menschen umarmen, der dir begegnet! Damit könnten wir der sozialen Kälte in diesem Land mit einer wahren Woge menschlicher Wärme den Garaus machen. Überall nur Liebe, Freundlichkeit statt Frust, Nachbarschaft statt Neid, Güte statt Groll."
Meinen Einwand, dass wohl eher ein freundliches Kopfnicken als eine willkürliche Umklammerung gemeint war und dies wohl auch nicht jedermanns Sache sei, wischte er vom Tisch. Natürlich könne man hier differenzieren und müsse nicht jedem unrasierten Greis in die Arme fallen. Geschlecht und Erscheinungsbild der zu grüßenden Mitmenschen dürfe man schon berücksichtigen. Aber das würde ja am revolutionären Potenzial der Idee nichts ändern.
"Verstehst du denn nicht", fragte mein Freund leidenschaftlich, "dass dies die nächste Stufe der Evolution sein könnte und wir es selbst in der Hand haben, der grüßende Mensch zu werden?"
Haralds nächster Satz ließ mich die Rumdosis in meiner Tasse erhöhen: "Ich habe lateinische Ermittlungen angestrengt und den neuen Namen unserer Spezies festgelegt: Homo Salutaris, weil salutare grüßen heißt." Dann fügte er noch hinzu, dass der Wegfall des Wortes "sapiens" ohnehin eine überfällige Angelegenheit sei, weil sich der Mensch im Durchschnitt eben nicht als weise oder vernünftig erwiesen habe. Das beste Beispiel dafür sei die Erfindung des Privatfernsehens.
Harald hatte es wieder einmal geschafft, mich in einen Zustand völliger Ratlosigkeit zu versetzen. Ein Mann, dem es mitunter schwerfiel, sich zwei Socken gleichen Farbtons überzustreifen, hatte sich Gedanken über die Evolution gemacht. Und ich musste darauf reagieren.
"Das klingt ja alles sehr interessant", hielt ich entgegen, "aber du vergisst, dass Veränderungen manchmal Jahrtausende brauchen."
Haralds Antwort kam bemerkenswert schnell: "Du hast völlig Recht, und deswegen sollten wir sofort beginnen. Du begrüßt Herrn Rigoscheit und ich seine Frau. Dann erklären wir ihnen, worum es geht, und arbeiten nach dem Schneeball-Prinzip. Mit dem Jerichower Land müssten wir bis zum Herbst durch sein."
Mein Freund lehnte sich zurück, nahm einen Schluck und lächelte zufrieden. "Was für eine Vision", flüsterte er, "eine Welt, die sich in den Armen liegt." In genau diesem Moment hörte es auf zu regnen, die Sonne hatte die Wolken durchbrochen …