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Premiere in der "Magdeburger Zwickmühle" Kabarett, das den deutschen Michel wachrütteln will

10.09.2010, 04:13

Liegt der deutsche Michel im Tiefschlaf? Ist das Volk so trantütig, dass es alles mit sich geschehen lässt? Die "Magdeburger Zwickmühle" befürchtet genau dies und nennt ihr neues Programm "Davon wird die Welt nicht munter". Seine ausgiebig und rhythmisch beklatschte Premiere hatte es am Dienstagabend.

Von F.-René Braune

Magdeburg. In welche Richtung das Ganze gehen soll, wird schon zu Beginn deutlich, als Hans-Günther Pölitz seinen Mitspielern Marion Bach und Klaus Schaefer in die Parade fährt: Während die beiden zu esoterisch angehauchten Wellness-Gitarrenklängen versuchen, das Publikum mit "Schlaf, mein Prinzchen, schlaf ein" zu sedieren, stürmt er durchs Publikum und ruft "Wacht auf, Verdammte dieser Erde!".

Pölitz übernimmt und wirft den Premierengästen altbekannte Zitate um die Ohren, darunter "Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will". 150 Jahre sei das alt, erklärt er, aber noch so aktuell wie damals. Übergangslos folgt eine dramatische Ballade über einen Bundesbahn-Reisenden, der bei 40 Grad Celsius versucht, sich zum Speisewagen durchzukämpfen, um ein kühlendes Getränk zu erhaschen und sein Überleben zu sichern. Auf diese Weise kommt man zum Klimaanlagenbauer Siemens, dann zu den gigantischen Profiten, die der Konzern in Griechenland gemacht hat, und landet schließlich beim Euro-Schutzschirm, den die "uckermärkische Sparfee" Angela Merkel aufgespannt hat und den letztlich der vielzitierte kleine Mann mit seinen Steuern bezahlen muss.

Lacher und Szenenapplaus beweisen durchgängig, dass Pölitz und Co. ihren eigenen Programmtitel erfolgreich widerlegen – das Publikum hört die Botschaft und ist gleichermaßen hellwach wie amüsiert.

Wie fast immer holen die drei zu einem satirischen Rundumschlag aus, dessen roter Faden die Wut auf die Maßlosigkeit der Regierenden und der Ärger über die schweigende Mehrheit ist. Laotse wird zitiert: "Stets sorge, dass das Volk ohne Wissen und Wunsch sei. Und sorge zugleich, dass die Wissenden nicht zu handeln wagen."

Von bitterböser Satire zum Schenkelklopfer

Immer wieder provozieren die drei Gefühlsschwankungen beim Publikum, das ohne jede Vorwarnung von der nachdenklichen Betroffenheit über das befreiende Lachen bis zum "genauso isses" geführt wird.

Und sie bedienen sich dabei einer bemerkenwerten Vielfalt an Stilmitteln, die bei der bitterbösen Satire beginnt, den Kalauer nicht scheut und bis zum erotisch angehauchten Schenkelklopfer reicht. So gerät in einer Spielszene der Bundestag zur Super-Muppet-Show, in der Merkel als Miss Piggy und Seehofer als Vossibär an der Fäden der Wirtschaft hängen. Und die Oppositionsparteien spielen die Rentner auf dem Balkon …

Wieder einmal Kabarett, das auch weh tut, weil es provoziert, das jede Zurückhaltung scheut und den Finger erst dann in die Wunde legt, wenn der Schmerz auch garantiert ist.

Pölitz scheut sich nicht, Marion Bach eine Burka zu empfehlen, weil sie dann jede Menge Geld für den Frisör und die Schminke sparen könnte. Eine Spielszene, in der die Gleichberechtigung der Frau zum schmerzhaften Gleichnis für den Zustand unserer Gesellschaft wird – auch in Deutschland sei die Emanzipation noch längst nicht verwirklicht, schließlich werde erst ein Drittel der Frauen misshandelt. Die katholische Kirche sei da schon weiter – da käme jeder mal dran …

Regisseur Rainer Otto und Autor Hans-Günther Pölitz haben dagegen auf wohltuende Weise kleinkünstlerische Gleichberechtigung geschaffen – alle drei Akteure können sich wunderbar entfalten. Marion Bach singt sich erneut in die Herzen der Zuschauer und persifliert auf bezirzende Weise eine dekadente deutsche Durchschnittsfrau, die sich auf einem Kreuzfahrtschiff weigert, afrikanische Flüchtlinge aufzunehmen, andererseits aber davon fantasiert, von einem Boot voller "großer schwarzer Neger" aufgenommen zu werden.

Klaus Schaefer unter Artillerie-Beschuss

Wesentlich schwerer hat es da Klaus Schaefer, der solistisch brillieren kann, wenn er unter schwerem Artillerie-Beschuss und Maschinen- gewehr-Feuer als Sportreporter ein "Spiel" zwischen Taliban 04 und Inter Nato in Afghanistan kommentiert.

Zu den vielen Höhepunkten des Programms zählt zweifellos auch ein Szene, in der Hans-Günther Pölitz erneut so überzeugend in die Rolle eines vom Zahn der Zeit keinesfalls verschonten Rentners schlüpft, dass man ihn fast einen Rollstuhl auf die Bühne bringen möchte.

Im Duett mit Klaus Schaefer erläutert er Möglichkeiten, wie sein eigenes Lebenszeitkonto durch das Ableben eigener Verwandter vor deren Eintritt ins Rentenalter erhöht werden kann. Humor von der schwärzesten Sorte, der beim Publikum aber zielsicher ins Schwarze trifft.

Der dem Programmtitel innewohnende Pessimismus scheint sich ad absurdum zu führen – wenn die Welt von solchen Programmen nicht munter wird, wovon dann?