Kino extrem - Wie übersteht man einen Acht-Stunden-Film?
Schuhe aus, Thermoskanne auf! Zum Endspurt gibt es für das Berlinale-Publikum eine echte Herausforderung. Ein achtstündiger Film von den Philippinen geht ins Bären-Rennen. Wie hält man da durch?
Berlin (dpa) - Roter Teppich morgens um 9.30 Uhr. Und statt in schicker Abendrobe nehmen die Festivalbesucher bei dieser ungewöhnlichen Weltpremiere in ihren bequemsten Klamotten in den plüschig roten Sesseln im Berlinale-Palast Platz.
Schuhe werden ausgezogen, Nackenkissen ausgepackt und Thermoskannen mit Tee oder Kaffee unauffällig unter dem Sitz abgestellt. Denn es wird ein langer Tag werden, der viel Sitzfleisch erfordert.
Mehr als acht Stunden lang ist der philippinische Wettbewerbsbeitrag A Lullaby to the Sorrowful Mystery, was übersetzt so viel wie Ein Wiegenlied für das schmerzhafte Geheimnis heißt und auf einen Teil des katholischen Rosenkranz-Gebets anspielt. So ein ausufernd langer Film wurde noch nie zuvor in der Geschichte der Berlinale im Rennen um den Goldenen Bären gezeigt.
Fahles Sonnenlicht fällt auf den roten Teppich, als Festivaldirektor Dieter Kosslick dort die Filmcrew um Regisseur Lav Diaz (57) gewohnt herzlich begrüßt. Der Berlinale-Chef, die Schauspieler und das Filmteam haben sich an diesem Tag wohl als einzige in Schale geworfen - die Damen lächeln in langen Samt- und Seidenkleidern den wenigen Fotografen zu, die Herren tragen dunkle Anzüge.
Die sieben Jurymitglieder, darunter Hollywoodstar Meryl Streep und der deutsche Schauspieler Lars Eidinger (Was bleibt, Tatort), sind bei dieser ungewöhnlichen Filmvorführung nicht dabei. Sie haben das Mammutwerk bereits gesehen, heißt es.
Mit Nüssen und Müsliriegeln hat sich die Berlinerin Barbara Kümritz (63) für den Tag gerüstet. Und: Ich habe gut gefrühstückt!, sagt die pensionierte Lehrerin, die aus Neugier und Interesse gekommen sei. Es ist mein erster Film von Lav Diaz und mein erster so langer Film, sagt Mylah Ann C. Rubio von der Philippinischen Botschaft.
Diaz (57) gehört seit Jahren zu den erfolgreichsten Künstlern seiner Heimat. Für das fünfeinhalbstündige Drama Mula sa kung ano ang noon - From What Is Before bekam er 2014 den Goldenen Leoparden, den Hauptpreis des Internationalen Filmfestivals Locarno. Bekannt geworden war er zehn Jahre vorher mit Evolution of a Filipino Family, einem elfstündigen Familiendrama über die Zeit der Marcos-Diktatur, an dem er zehn Jahre lang gearbeitet hatte.
In seinem neuen, in Schwarz-Weiß gedrehten Film A Lullaby to the Sorrowful Mystery erzählt er vom philippinischen Freiheitskämpfer Andrés Bonifacio y de Castro, der im späten 19. Jahrhundert Widerstand gegen die spanischen Kolonialherren leistete. Als Vater der philippinischen Revolution wird er bis heute verehrt.
Doch Diaz hat kein klassisches Biopic gedreht. Er ergründet in seinem gefühlt in Echtzeit gedrehten Filmepos den Mythos eines Nationalhelden und gleichzeitig die Rolle des Individuums in Zeiten von Krieg und Revolution. Wer sich allerdings mit der philippinischen Geschichte nicht so gut auskennt, der findet nur schwer hinein in das oft rätselhafte, durch und durch stilisierte Geschehen auf der Leinwand.
Das mag auch der Grund sein, dass schon eine halbe Stunde nach Filmbeginn die ersten Zuschauer den Saal verlassen. Im Laufe des Tages ist es dann ein Kommen und Gehen - wer rausgeht, bekommt ein Bändchen, mit dem er später wieder Einlass erhält. Nur eine einstündige Pause gibt es nach etwa der Halbzeit - und Essen und Trinken während des Films ist im Berlinale-Palast (eigentlich) nicht erlaubt. Filmkunst ist eben manchmal auch eine echte Zumutung. Zum Ende haben aber geschätzt Dreiviertel der Zuschauer durchgehalten.
Ich bin von dem Mut fasziniert, das Publikum mit so einem Mammutfilm zu konfrontieren. Ich gucke gern zu, auch wenn ich nicht alles verstehe, meint der Brite Brian Adler (24). Ich kann damit nichts anfangen, ich fühle mich verloren, sowohl in der für mich nicht entschlüsselbaren Story als auch in den vielen Bildern, die ich recht wirr finde, sagt die japanische Studentin Sakura Kobayashi (26). Und Antonio Iacono (32), Musiker aus Italien, findet: Für mich ist der Film wie eine Sinfonie. Aber ich denke, er passt nur auf Festivals. Für den Alltag im Kino ist das nichts.
Mit dem Premiere von A Lullaby to the Sorrowful Mystery ist die 66. Berlinale nun eindeutig auf der Zielgeraden. Bevor am Samstag der Goldene und die Silbernen Bären verliehen werden, gehen am Freitag nur noch zwei Filme ins Rennen: United States of Love des polnischen Regisseurs Tomasz Wasilewski und A Dragon Arrives! des Iraners Mani Haghighi. Das letzte Wort hat dann die Jury.