1. Startseite
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Die Stunde der orthodoxen Eiferer

Matilda Die Stunde der orthodoxen Eiferer

Kein Film war in Russland in den vergangenen Monaten so umstritten wie "Matilda". Er sollte sogar als extremistisch eingestuft werden.

Von Mandy Ganske-Zapf 24.10.2017, 23:01

Moskau/St. Petersburg l Eine mehrstöckige Einkaufspassage außerhalb vom Moskauer Stadtzentrum, draußen schieben sich Autos dröhnend auf sechs Spuren vorbei, drinnen, oben unterm Dach, ist ein Kino einquartiert. Hier, wie in zahlreichen Lichtspielhäusern des Landes, wird der umstrittenste Film des Jahres angekündigt: „Matilda“. Das Plakat hängt, der Vorverkauf läuft – und das äußerst unaufgeregt.

Dabei hat kein Film in den vergangenen Monaten so viel Hysterie ausgelöst wie dieser. Orthodoxe Aktivisten drohten: Kinos würden brennen, würde der Film gezeigt. Auf das Studio von Regisseur Alexej Utschitel flogen tatsächlich Molotowcocktails, vor dem Büro seines Anwalts wurden zwei Autos in Brand gesetzt. Eine der größten Kinoketten des Landes lehnte es zwischenzeitlich ab, „Matilda“ ins Programm zu nehmen. „Aus Sicherheitsgründen.“ Die Premiere wurde mehrfach verschoben. Am Montagabend fand sie in St. Petersburg schließlich doch statt.

Stein des Anstoßes ist die Geschichte um die historisch verbürgte voreheliche Liebschaft vom noch ungekrönten Zaren Nikolaus II. mit der Primaballerina Matilda Kschessinskaja. Diese greift der Film auf und verarbeitet sie künstlerisch. Nikolaus II. war der letzte russische Zar. Er wurde in der Februarrevolution 1917 gestürzt und später, nach Lenins Machtergreifung, durch die Bolschewiki brutal ermordet und verscharrt, ebenso die gesamte Familie der Romanows.

Im neuen Russland – in dem die russisch-orthodoxe Kirche unter Patriarch Kirill und die Staatsmacht ein enges Verhältnis pflegen – war der Zar zur Jahrtausendwende heiliggesprochen worden. Vielen orthodoxen Eiferern und Fundamentalisten gilt er damit als unantastbar. Als der Trailer zu „Matilda“ veröffentlicht wurde, war das der Auslöser für Proteststürme.

An die Spitze dieser Bewegung hat sich mit der Duma-Abgeordneten Natalja Poklonskaja eine Frau aus dem politischen Establishment gesetzt, in deren Fahrwasser der Unmut gegen den Film mächtig anschwellen konnte. Poklonskaja, frühere Generalstaatsanwältin auf der Krim, versucht bis zum Schluss, den Film zu verhindern und beruft sich dabei auf zahlreiche Bürgerzuschriften, die sie erreicht hätten, und auf die „Verletzung der Gefühle Gläubiger“. Das wurde nach dem Prozess gegen die Frauen von „Pussy Riot“ zum Straftatbestand.

Zuletzt forderte Poklonskaja den Generalstaatsanwalt in einer Videobotschaft auf, den Film als „extremistisch“ einzustufen. Der Extremismusbegriff wird in Russland in den vergangenen Jahren regelmäßig herangezogen, um Unliebsames wahlweise zu brandmarken oder zu ahnden. Die muslimisch dominierten Teilrepubliken Inguschetien und Tschetschenien sprangen Poklonskaja unlängst bei und forderten Zensur. Dem tschetschenischen Republik-Chef Ramsan Kadyrow schreiben einige Beobachter zu, sich auf solche Weise als Vorkämpfer aller Gläubigen in Russland stilisieren zu wollen. Hinter den offenen Drohungen gegen die Kinos soll schließlich eine bis dahin nicht in Erscheinung getretene Splitter-Organisation stehen, die sich „Christlicher Staat – Heilige Rus“ nennt und deren Anführer einem orthodoxen Gottesstaat das Wort redet. Seit kurzem sitzt er in Untersuchungshaft.

Nach Monaten quälender Auseinandersetzung sah sich Kulturminister Wladimir Medinski offenbar doch noch gezwungen, persönlich Partei für den Regisseur und sein Werk zu ergreifen. Für viele überraschend, gilt er doch als Vertreter eines kulturpolitischen „Rollback“. Er habe in dem Film nichts Beleidigendes entdecken können und verteidigte die Aufführung. Mittlerweile gab es eine Sondervorstellung für rund 50 Duma-Abgeordnete. Einige zeigten sich begeistert und lobten, wie der Zar in diesem Melodram treu zum Vaterland halte.

Was bleibt, ist: Angst. Neben Regisseur Utschitel stand in der ganzen Zeit auch der deutsche Schauspieler Lars Eidinger unter Beschuss. Er verkörpert den Zaren und wurde wegen seines exzentrischen Spiels aus früheren Rollen regelrecht verteufelt. Vielfach war er massiven Anfeindungen ausgesetzt, auch von Poklonskaja. Eidinger und weitere Darsteller haben ihren Besuch in Russland abgesagt.

Der Film läuft am 2. November in Deutschland an. Am 29. Oktober ist er in der russischen Originalversion im Cinestar Magdeburg zu sehen.