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Von F.-René Braune Schwerstmütig betrübt oder: Modus Vivaldi

09.12.2010, 04:23

Haralds Tonfall hatte etwas so Mitleiderregendes am Telefon, dass ich ihn spontan auf ein Getränk seiner Wahl zu mir bat. Durchs Küchenfenster sah ich ihn in seinen alten Filzpantoffeln heranschlurfen, der Neigungsgrad seiner Schultern wurde durch den seines Nackens noch deutlich übertroffen.

Bevor er klingeln konnte, öffnete ich die Tür und fragte, was ich ihm anbieten könne. Seine Antwort "Arsen wäre passend, ich bin schwerstmütig betrübt" steigerte meine Sorge nicht unerheblich. Da mir angesichts der atmosphärischen Situation ein Bier zu schwach, ein tödliches Gift denn aber doch zu stark erschien, griff ich zum grünen Absinth, um Haralds Stimmungslage wenigstens farblich entgegenzukommen.

Schon die ersten sechs Zentiliter lockerten Stimmung und Zunge meines Freundes dergestalt, dass er von der Suizidgefährdung zur Situationsbeschreibung überging. Heute Morgen war sein frisch geschiedener Kollege Rudi Mentehr in einer stellenweise zerrissenen Jeans zur Arbeit gekommen.

"Da gerade geschiedene Frauen dazu neigen", fuhr mein Freund fort, "ihre einstigen Ernährer in den Hungertod oder wenigstens den Ruin zu treiben, war mir klar, dass Rudi wohl sein letztes Hemd verloren und sich bei der Altkleidersammlung bedient hatte." Harald schenkte sich selbst nach und fuhr mit brüchiger Stimme fort: "Weißt du, wie es ist, einen fleißigen, ehrlichen Mann in der Blüte seines Lebens zu sehen, der im Müll wühlen muss, um sich kleiden zu können?

Es zerriss mir fast das Herz und deshalb erzählte ich ihm von meiner Bekanntschaft mit einer KIK-Verkäuferin, bei der wir zusammen eine Zehn-Euro-Hose mit einem 20-prozentigen Preisnachlass erstehen könnten und dass ich ihm diese Summe auch vorschießen würde. Als ich dann noch darauf hinwies, dass er sich um die Rückzahlungsraten keine Sorgen zu machen bräuchte, brachen alle Kollegen in schallendes Gelächter aus."

Mein Freund trank auch die nächsten sechs Zentiliter in einem Zug und begann leise zu schluchzen. Also legte ich meine Hand auf seine Schulter, um zu trösten und übernahm das Gespräch: "Ich kann mir denken, was dann passiert ist, wahrscheinlich haben dich alle ausgelacht und dir gesagt, dass Rudis Hose die neueste Mode sei und 178 Euro gekostet hat." Harald schluchzte erneut und hauchte "nein, 340".

Grob geschätzt hatte Harald zum letzten Mal bei den Tausend Teletipps des DDR-Fernsehens eine Art Modenschau gesehen, also konnte ich die Peinlichkeit seiner Situation nur zu gut nachvollziehen. Während ich noch überlegte, wie ich ihn ins Leben zurückholen könnte, ergriff er wieder das Wort: "Das Schlimmste habe ich dir noch gar nicht erzählt – meine Kollegen haben mir einen Spitznamen gegeben, sie rufen mich jetzt Kiki. Ich weiß wirklich nicht, welchen Modus Vivaldi wir finden, um überhaupt noch zusammen arbeiten zu können. Hast du wirklich kein Arsen?"

Wie so oft in unserer Beziehung hielt ich eine leicht ironisierende Erwiderung für die richtige Therapie: "Also eines steht fest, mein lieber Harald, ich kann dich nicht jedesmal sedieren, nur weil sich jemand eine neue Hose kauft." Mein Freund schaffte es tatsächlich, sich ein Lächeln abzuringen, bestand aber darauf, das letzte Wort zu haben: Du hast Recht, und zur Not kann ich mir ja immer noch ein Hungertuch stricken, an dem ich mich erhänge …"