Dokumentarfilmer diskutieren in Halberstadt mit Musikschülern zu John Cages 100. Geburtstag "Steht in 600 Jahren diese Kirche noch?"
Am 5. September wäre der amerikanische Avantgarde-Komponist John Cage 100 Jahre alt geworden. Für das Fernsehen dreht ein Filmteam zurzeit eine Dokumentation über Cage und traf unter anderem eine Thüringer Gymnasialklasse in Halberstadt.
Halberstadt l Kühle Luft und ein eigenartiger Summton sind das Erste, was Besucher wahrnehmen, wenn sie durch die Tür der Halberstädter Burchardikirche treten. Das zweite ist der weiche Splitt anstatt sonst üblicher Steinplatten unter den Füßen. Erst nach ein paar Schritten wird hinter einer Ecke die kleine Orgel sichtbar. Seit mehr als elf Jahren wird auf dem eigens gebauten Instrument das Stück "ORGAN²/ASLSP" übersetzt "So langsam wie möglich", gespielt. Die auch als "langsamstes Konzert der Welt" konzipierte Aufführung soll weitere 628 Jahre erklingen. Allein der jetzige Akkord - c\'(16\'), des\'(16\'), as\' - ist seit August 2001 zu hören und wird erst Anfang Juli durch den Dreiklang a\', c", fis" abgelöst.
Die außergewöhnliche Halberstädter Aufführung wird einen Platz in einem Dokumentarfilm über Cage bekommen. Das Produktionsteam der Leipziger Firma Accentus Music hat sich dazu mit einer Musikschülerklasse des Christlichen Gymnasiums Jena verabredet, die auf den Spuren Cages nach Halberstadt gekommen ist. "Cages ganzes Leben und Werk innerhalb von 60 Minuten zu erzählen, wäre gar nicht möglich", sagt Drehbuch-Autorin Anne-Kathrin Peitz. Stattdessen solle Cage lebendig werden in einem Kaleidoskop aus Anekdoten und Interviews mit Leuten, die ihn persönlich gekannt haben, aus Orten, an denen er gewirkt hat, und aus kleinen Konzertausschnitten.
Außer in Halberstadt hat das Filmteam in New York gedreht, der langjährigen Wirkungsstätte des Experimentalkomponisten, im Ryoan-ji-Tempel im japanischen Kyoto sowie in Köln, Berlin und Leipzig. In Halberstadt diskutieren die Filmleute mit den Jenaer Jugendlichen die Frage: "Hat John Cage uns heute noch etwas zu sagen und falls ja, was?" Die Jenaer Gymnasiasten haben sich mit ihrem Musiklehrer Philipp Schäffler in einem Kreis versammelt. Am Abend zuvor hatten sie die Burchardikirche besucht, den Klang auf sich wirken lassen und anschließend musiziert. Jetzt sprechen sie vor laufenden Kameras über ihre Eindrücke.
Nein, so richtig schön sei er nicht, der Ton, sagt Uta. "So einen schrillen Akkord würde ich mit meinem Klavier nur kurz spielen." Eine Mitspielerin spricht gar von einem "Tinnitus-Geräusch", an das sie sich aber allmählich gewöhnt habe. Georg hat festgestellt, wie sich mit jedem Schritt durch die Kirche seine Hörempfindung veränderte. "In der einen Ecke fand ich es nervig, an einer anderen Stelle beruhigend."
Markus sieht den Cage-Ton überhaupt nicht als Musik an. "Erst im Zusammenspiel mit anderen ist der Klang Teil von Musik geworden", meint er und hat Sympathie für Cages Anschauung, nach der jeder Klang gleichberechtigt ist. Faszinierend findet er den Gedanken, dass das vor elf Jahren begonnene Musikstück womöglich in mehr als 600 Jahren noch zu hören sein wird. "Steht dann die Kirche noch? Wie sieht es hier ringsum aus?", fragt er in die Runde. Wenn man darüber nachdenke, sei die Sache wirklich "wie ein Weltwunder".