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Autor Terror am Küchentisch

Der Genthiner Autor Gert Loschütz erinnert sich zum 70. Geburtstag an eine Begegnung mit Ulrike Meinhof und eine besondere Liaison.

Von Massimo Rogacki 07.10.2016, 01:01

Berlin l Nicht jedem Literaturfan ist der Autor Gert Loschütz ein Begriff. Doch wer einmal etwas von ihm gelesen hat, weiß um das Besondere seiner Sprache. Er ist der magische Realist unter den deutschen Autoren – und er hat einiges zu erzählen. Am 9. Oktober wird er 70 Jahre alt.

Als er zehn Jahre alt ist, übersiedelt er mit seinen Eltern nach Hessen. 1966 zieht er nach Berlin und erlebt als junger Student, wie die 68er sich anschicken, die Gesellschaft zu verändern. Mehr als für sein Studium arbeitet er zu diesem Zeitpunkt, mit Anfang 20, bereits als Lektor im Luchterhand-Verlag. Und er schreibt. Zunächst Lyrik. Erste Veröffentlichung 1971: „Gegenstände. Gedichte und Prosa“.

Mit vielen Größen der schreibenden Zunft war er bekannt oder ist ihnen begegnet. Grass, Enzensberger, Uwe Johnson, Reich-Ranicki, Robert Gernhardt. 1968 soll er bei der Gruppe 47 auf einer Tagung in der früheren Tschechoslowakei lesen. Dazwischen kommt der Einmarsch sowjetischer Truppen.

Noch mehr Zeitgeschichte gefällig? Eines Tages steht eine Frau namens Ulrike Meinhof vor der Tür seiner Wohnung in Berlin. Nachzulesen ist diese Episode in einer der autobiografisch gefärbten Erzählungen aus dem Band „Unterwegs zu den Geschichten“ von 1998. Die RAF-Terroristin wird hereingelassen. „Ich habe verurteilt, was sie tat“, sagt Loschütz. Meinhof darf trotzdem bleiben. In den folgenden Tagen werden ihre Motive am Küchentisch diskutiert. So war das damals.

All das vernimmt man als Zuhörer einigermaßen staunend. So auch die Verbindung zur späteren Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, mit der er anderthalb Jahre liiert war, um dann ein Stipendium in der Villa Massimo in Rom anzutreten und ihr zu eröffnen, dass er gedenke, allein zu reisen.

Doch zurück zum Werk des Gert Loschütz: Auf mehreren Hochzeiten tanzt er seit jeher: Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Hörspiele, Filmdrehbücher und Gedichte.

Inzwischen spielt ausschließlich Prosa eine Rolle. Ein Vielschreiber ist er nicht. „Stoffe müssen reifen“, sagt er. Mit „Dunkle Gesellschaft“ steht Loschütz 2005 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Gegen die etwas massentauglicheren Bücher von Daniel Kehlmann und Arno Geiger, der den Preis gewinnt, hat Loschütz indes keine Chance. Den Preis verdient gehabt hätte er allemal. Denn der gebürtige Genthiner hat so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal in der deutschen Literatur. Es ist dieses magisch-realistische Erzählen. Seine Protagonisten entziehen sich eindeutigen Zuschreibungen, die Welt der Figuren in seinen Büchern durchzieht eine tiefe Melancholie – häufig im Angesicht des Scheiterns.

Das Traumhafte, Surreale in seinen Geschichten lässt sich gut in der Erzählung Das „Pfennig-Mal“ von 1986 erkunden. Zwei Kinder schleichen sich in den Zirkus und finden sich unvermittelt in einer fantastischen Welt wieder. Den Stoff für diese Erzählung, sagt Loschütz, habe er in Irland entdeckt.

Auch fließen Alltagserlebnisse bei Loschütz häufig in das Erzählte ein. Vor allem, wenn Menschen sich unterhalten, höre er genau hin, sagt er. Und genau deshalb schreibt Loschütz Dialoge nah am Mündlichen, wie es kaum ein zweiter vermag. Im Moment arbeitet der Autor an „verschiedenen Stoffen“. Wie gesagt: Nicht alles muss zwanghaft veröffentlicht werden. Geschichten müssen reifen, so sein Credo.

Denkt er heute an seine Heimatstadt Genthin zurück, überkommt ihn noch immer eine besondere Art der Sehnsucht. Deshalb reist er regelmäßig in die Stadt am Elbe-Havel-Kanal. „Vielleicht verkläre ich Genthin auch ein wenig, weil ich mich nach unserem Umzug nach Hessen als Kind nicht wohlgefühlt habe“, sagt der Autor rückblickend.

Seinen 70. Geburtstag feiert er allerdings in Berlin. Denn dort lebt er bis heute, zusammen mit seinem Sohn – die Tochter ist längst erwachsen – und seiner Frau. Die ist übrigens auch keine ganz Unbekannte: Sängerin Katharina Kammerloher gehört zum Ensemble der Staatsoper Unter den Linden.