SAW-Programmchef Mario Liese im Interview über die Herausforderungen des digitalen Zeitalters "Tokio Hotel war einfach kein Radiothema"
Vor 20 Jahren ging in Sachsen-Anhalt mit Radio SAW die erste private Radiostation auf Sendung. Volksstimme-Redakteur Oliver Schlicht sprach mit SAW-Programmchef Mario Liese über das Radiomachen im digitalen Zeitalter.
Volksstimme: Herr Liese, laut aktuellen Branchenzahlen gehört Radio SAW zu den Top fünf der privaten deutschen Radiosender. Ist die Popularität eines Musiksenders nicht einzig und allein von der richtigen Musikauswahl abhängig?
Mario Liese: Die Musik ist nicht alles entscheidend. Abhängig von Tageszeiten haben wir mit bis zu 40 Prozent einen ungewöhnlich hohen Wortanteil für einen privaten Radiosender. Was die Musikauswahl betrifft, haben wir, glaube ich, den richtigen Geschmack der Leute hier getroffen. Musik für junge Erwachsene, die sehr in der Mitte der Gesellschaft platziert sind. Das hat inzwischen viele Nachahmer gefunden, aber damit müssen wir leben.
Volksstimme: Die Magdeburger Band Tokio Hotel gehörte selbst in der Hochzeit ihrer weltweiten Popularität nicht dazu. Sie wurde von SAW weitgehend ignoriert. Es gab Gerüchte, die Band habe sich nicht ausreichend in den Sender eingekauft. Stimmt das?
Liese: Das ist Unsinn. Tokio Hotel war einfach kein Radiothema. Sender mit Musikausrichtung auf ein erwachsenes Publikum haben in ganz Deutschland kaum Tokio Hotel gespielt. Eine Magdeburger Band, Jungs aus Sachsen-Anhalt - wir hätten uns niemals dagegen gesträubt. Wir hatten sie auch im Test drin. Mehrfach. Das Ergebnis war immer das gleiche: Tokio Hotel war bei den Hörern unserer Hauptzielgruppe - das sind vor allem Menschen zwischen 20 und 50 - nicht wirklich ein Thema.
Volksstimme: Das verwundert. Schließlich waren sie auch in den Charts sehr weit vorn platziert?
Liese: Das ist heute Justin Bieber auch. Aber hören sie den irgendwo groß im Radio?
Volksstimme: Als SAW-Geschäftsführer darf man doch bestimmt mal den ein oder anderen persönlichen Lieblingssong ins Programm drücken. Was mögen Sie für Musik?
Liese: Ich bevorzuge die mehr rockigen Sachen. Und wenn Nickelback einen neuen Song draußen hat, muss ich mir hier im Haus schon mal einige Schmäh-Sprüche von den lieben Kollegen gefallen lassen. Aber als Geschäftsführer muss man Entscheidungen treffen. Grundsätzlich machen jedoch unsere Hörer die Musik. Wir überlassen nichts dem Zufall und haben eine Marktforschung, die jede Woche den Musikgeschmack testet. In Musik-Meetings sitzen wir zudem regelmäßig zusammen und gucken uns in die Augen. Es gibt bestimmte Titel, die spielt SAW nicht. Wird gerappt wie verrückt - passt das nicht zu uns. Um nur ein Beispiel zu nennen.
Volksstimme: Kürzlich überraschte SAW mit der Nachricht, dass sie Gründerzeit-Moderator Maik "Scholle" Scholkowsky ins Programm zurückholen wollen. Ist das ihr Tribut an den demografischen Wandel, an die immer älter werdende Hörerschaft?
Liese: Nein, das hat damit weniger zu tun. Das geht auf eine nette Idee zurück, die hier im Team entstanden ist. Ehemalige Moderatoren wie Marc Angerstein, Toni Rupprecht oder "Scholle" sollen im Jubiläumsjahr zur Erinnerung an 20 Jahre SAW als Moderatoren zurückkehren. Die Reaktion auf diese Ankündigung war so irre positiv, dass wir überlegen, die drei wieder öfter moderieren zu lassen.
Volksstimme: Wie groß ist der Hörerverlust, der dem demografischen Wandel geschuldet ist?
Liese: Aufgrund des soziodemographischen Wandels wird der Osten bei der Erhebung der Media-Analyse immer wieder abgewichtet. Bei der letzten Auswertung sind uns durch die neue Gewichtung 3,5 Prozent wieder abgezogen worden. Das bedeutet, wir kriegen Hörer abgezogen, bevor wir sie überhaupt verloren haben. Aber damit müssen wir uns abfinden, wie die Kollegen anderer Medien auch.
Volksstimme: Verändert die älter werdende Bevölkerung bereits das Musikprofil des Senders?
Liese: Nein. Während der Durchschnittshörer vor ein paar Jahren 38 Jahre alt war, ist er heute etwa 42 Jahre. Wir bewegen uns also noch in der guten Mitte. Das bedeutet, dass wir von unserem Grundkonzept, viel aktuelle Musik zu spielen, nicht abrücken. Aber natürlich sind wir kein reines Jugendprogramm.
Volksstimme: Junge Leute - soweit in Sachsen-Anhalt noch vorhanden - hören heute Handy statt Radio. Oder laden sich die Musik aus der Internet-Wolke. Kommt dem Radio da eine Generation abhanden?
Liese: Das glaube ich nicht. Radio hat auf der einen Seite eine lange Tradition. Und es ist auf der anderen Seite ein Medium, welches in der digitalen Zeit sehr kompatibel ist. Das Crossover, die Überschneidung mit anderen Medienplattformen, gelingt Radio gut. Zum Beispiel unsere Streaming-Angebote in der SAW-Musikwelt im Web oder SAW-Apps für Smartphones. Über solche Möglichkeiten können wir junge Leute sehr gezielt ansprechen.
Volksstimme: Aber die Werberelevanz dieser Hörer ist doch eher gering, oder?
Liese: Sicher hören die uns nicht jeden Tag den ganzen Tag, wie es uns als Hauptzielgruppe vielleicht lieb wäre. Junge Leute kommunizieren anders mit uns, darauf müssen wir uns einstellen. Aber allein die unterschiedlichen Streaming-Angebote nutzen derzeit bis zu 2500 Nutzer gleichzeitig. Noch vor einigen Jahren waren wir froh, wenn sich 40 bis 50 Leute gleichzeitig am Computer reingeklickt haben.
Volksstimme: Das Internet und die Digitalisierung der Kommunikation hat die Medienwelt zwar radikal umgekrempelt. Aber Geld verdient Radio mit UKW. Ähnlich wie im Buchmarkt oder im Zeitungswesen führt das digitale Geschäft eher ein Schattendasein. Sind wir die letzten Dinosaurier?
Liese: Sie haben absolut Recht, was UKW betrifft. Aber Marken wie SAW oder auch die Volksstimme sind keine Dinosaurier. Denn diese Marken sterben nicht aus. Sie sind tief im Heimatbewusstsein der Menschen verwurzelt. Auch, weil sie in der Region ansprechbar sind. Sie werden sich weiterentwickeln und in die digitale Welt hineinwachsen.
Volksstimme: Die technische Entwicklung des UKW-Nachfolgers DAB ist ebenso wie SAW 20 Jahre alt. Trotzdem hat es bis 2011 gedauert, bis das digitale Radio halbwegs flächendeckend auf Sendung ging. Kommt das Digitalradio DAB zu spät?
Liese: Die Einführung des Digitalradios verläuft alles andere als optimal. Die derzeit noch löchrige Empfangssituation vor allem in Gebäuden selbst in Magdeburg ist ebenso ärgerlich wie der sich jahrelang hinziehende Aufbau einer flächendeckenden Senderlogistik in der Altmark. Trotzdem: DAB ist ein eigener Standard, der den freien Radioempfang sicherstellt. Das ist für alle zukünftigen Geschäftsmodelle enorm wichtig. Deshalb glaube ich an das digitale Radio als Volksmedium der Zukunft. Wir werden uns auf eine lange duale Ausstrahlung der analogen und der digitalen Radiowelt einrichten müssen. Frühestens in zehn Jahren kann ich mir eine Abschaltung von UKW vorstellen.
Volksstimme: Zum Schluss noch eine nicht ganz ernst gemeinte Frage. Die Volksstimme schenkt SAW zum Geburtstag einen neuen Star-Moderator. Welchen hätten Sie gern: Reiner Haseloff, Dieter Bohlen oder Bettina Wulff?
Liese: Die Antwort fällt mir leicht. Politik und Medien sollten die nötige Distanz wahren, deshalb würde uns Herr Haseloff als Moderator nicht weiterhelfen. Frau Wulff schreibt lieber Bücher als zu moderieren. Aber den Dieter nehme ich. Bei aller Kritik an seiner Person - sein musikalischer Sachverstand würde uns bei SAW weiterbringen.