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Fernsehen Stille Wucht: Stuttgart-„Tatort“ fasst Einsamkeit in Bilder

Ein Stuttgarter Sonntagskrimi, wo weniger ermittelt als erzählt wird – leise, beklemmend und mit einer Figur, die lange nachwirkt.

Von Martin Oversohl, dpa 23.11.2025, 05:00
Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) rollen das Leben einer einsam gestorbenen jungen Frau auf.
Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) rollen das Leben einer einsam gestorbenen jungen Frau auf. Benoît Linder/SWR Presse/Bildkommunikation/dpa

Stuttgart - Es gibt die „Tatort“-Folgen nach Schema F: Vorspann und Tat, Suche, möglichst ein bisschen Spannung und schließlich der Fahndungserfolg. Und es gibt die wenigen Fälle, in denen der Mord nur einen Nebenaspekt darstellt. Wo es ums große Ganze geht, leise und empathisch erzählt. Die neue Stuttgarter Episode „Überlebe wenigstens bis morgen“ ist so ein Fall. Das Erste strahlt die SWR-Produktion heute um 20.15 Uhr aus.

„Rücken Sie doch mit dem Stuhl näher heran, dann erzähle ich Ihnen meine Geschichte“, sagt die weiche Stimme aus dem Off. Für Nelly Schlüter, Protagonistin und Opfer zugleich, ist es eine Geschichte voller Enttäuschungen, einsamer Stunden und der Sehnsucht auf Gesellschaft. „Es ist, als würde ich ganz laut um Hilfe rufen, aber es hört mich keiner“, sagt sie später aus dem Off und starrt ins Leere. 

Da hat sich die beste Freundin bereits abgewandt, die Nachbarn wollen nichts wissen von der jungen Frau, selbst die Eltern haben ihre Tochter monatelang nicht gesehen. Mit jedem Streben nach Zuneigung und Bestätigung, mit jedem Drängen auf Anerkennung werden die Gräben tiefer. 

Monatelang nicht vermisst

Als Nellys Leiche schwer verwest in ihrer Wohnung entdeckt wird, sind die Kommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) erschüttert. Niemand hat die junge Frau in all den Monaten als vermisst gemeldet, ihr Briefkasten ist leer und die Trauer früherer Liebhaber und der einst besten Freundin, die mit ihrer jungen Familie ein neues Leben begonnen hat, ist überschaubar. 

Ja, nett sei Nelly immer gewesen, aber zu fordernd und anhänglich, sagen die meisten. Ein Mensch, der im anonymen Großstadt-Singleleben Nähe suchte, wo andere Abstand wollten. Und die über ihr Unglück immer schwieg und in Traumwelten flüchtete. 

Modernes Thema

Kein Einzelfall. „Einsamkeit ist kein Privileg der Alten mehr“, sagt Bootz in einem seiner Gespräche. Denn wie Nelly (Bayan Layla) geht es vielen: Je nach Altersgruppe fühlt sich ein Drittel bis knapp die Hälfte der jungen Erwachsenen in Deutschland einsam oder stark einsam. Besonders betroffen sind 19- bis 22-Jährige und Menschen mit Migrationsgeschichte, wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt.

Einsamkeit ist ein modernes Thema, das erst langsam sein Tabu verliert. Aber es sei schwer, das in einen Tatort zu packen, der ja vor allem von einer spannenden Ermittlung erzählen soll, sagt Katrin Bühlig, von der das Drehbuch stammt. „Einsamkeit ist verdammt unsexy, sie ist traurig, man fühlt sich ausgeschlossen und alleingelassen.“

Die Welt da draußen 

Während die Tote dem Zuschauer immer wieder etwas offenbart und man mehr „mit“ ihr schaut als „auf“ sie, bleibt sie den Kommissaren ein Rätsel. Die Fassungslosigkeit angesichts „der Welt da draußen“ steht wieder und wieder in ihren blassen Gesichtern, in der Sprachlosigkeit, die von der Kamera immer auch einen Moment länger eingefangen wird als normal. So ermittelt das Duo ruhig, konzentriert, nachdenklich unter der Regie von Milena Aboyan. 

Allein ist Nelly nicht mit ihrer schwer angeknacksten Psyche, die sie in Traumwelten abschweifen lässt, in denen sie liebenswert, perfekt und beneidenswert glücklich sein darf. Der „Tatort“ webt ihr Schicksal mit einer zweiten Ebene zusammen und mit einem weiteren Fall. „Ich habe zwei Zeitebenen gewählt, damit die Zuschauer einerseits das Gefühl miterleben können und trotzdem ein "Tatort" erzählt wird“, erklärt Bühlig. Und sie macht in ihrer Geschichte auch deutlich: Es gibt Menschen, die mit der Einsamkeit Geschäfte machen.