Roman zu Breivik Verstörend und schmerzhaft
Die Morde des norwegischen Terroristen Anders Breivik sind für viele unbegreiflich. Unbeschreiblich sind sie nicht, wie ein Buch zeigt.
Oslo (dpa) l In der Nacht danach ist die Insel nicht still. Handys klingeln überall. Ein Justin-Bieber-Song, die Melodie einer Serie. Auf anderen blinkt lautlos der Anrufername. „Mama“. Immer wieder. Bis die Akkus versagen. Und die Telefone in einer Hosentasche, in einer steif gewordenen Hand verstummen. Ihre Besitzer können nicht mehr antworten.
69 Menschen starben am 22. Juli 2011 auf der kleinen, norwegischen Fjordinsel Utøya. Die meisten waren junge Leute, politisch engagiert und lebensfroh. Sie wurden eiskalt erschossen vom Terroristen Anders Behring Breivik. Acht weitere Norweger verloren ihr Leben, als Breiviks Bombe im Osloer Regierungsviertel explodierte. Der politisch motivierte Massenmord erschütterte in seiner unfassbaren Kaltblütigkeit das ganze Land. Es war ein Angriff auf Norwegens Identität.
Jetzt, fast fünf Jahre danach, erscheint auch in Deutschland eine schockierende, kraftvolle Rekonstruktion dieses Terrorakts. Åsne Seierstads „Einer von uns“ liest sich wie ein Krimi, ist aber akribisch recherchiert und keineswegs Fiktion. Der Triumph über das Böse bleibt aus, weil in Wahrheit am Ende eben nicht alles gut ist. „Einer von uns“ ist ein Buch, durch das man sich quält, bei dem man zwischendurch tief durchatmend die Augen schließt, das aber jede Seite zu lesen wert ist.
Die Journalistin Seierstad hat nicht nur den Osloer Terrorprozess verfolgt und psychiatrische Gutachten gelesen. Sie sprach kurz vor deren Tod mit Breiviks Mutter, ging mit Familien seiner Opfer spazieren, traf Überlebende. Auch den Massenmörder selbst bat sie um ein Interview – weil es im Journalismus wichtig sei, „direkt an die Quellen zu gehen“, erklärt sie im Nachwort. Breivik weigerte sich.
Seierstad, die als Kriegsreporterin in Afghanistan, im Irak und in Tschetschenien war, verwebt das Leben des Attentäters mit dem seiner Opfer. Eigentlich habe es sich falsch angefühlt, ihre Geschichten auf denselben Seiten zu sammeln, sagte sie einmal. Doch so ist ihr Buch mehr als die Beschreibung eines grausamen Massenmords. Es ist ein Buch über Norwegen und seine Gesellschaft, über Flüchtlinge und Demokratie.
Seierstad zeichnet Breivik als schwachen, tief verstörten Mann, der nach Anerkennung sucht. Als Menschen mit politischem Tunnelblick, der die Welt in Gut und Böse teilt. Über seine Zurechnungsfähigkeit erlaubt sie sich kein Urteil. Vor Gericht war das eine entscheidende Frage gewesen. Der heute 37-Jährige wurde schließlich für zurechnungsfähig erklärt und zur Höchststrafe von 21 Jahren Haft und Sicherungsverwahrung verurteilt.
Das Besondere an diesem Buch sind die Geschichten der drei Jungpolitiker Bano Rashid, Simon Sæbø und Anders Kristiansen. Seierstad beschreibt sie einfühlend und mit großer Wärme: Wie die positive, willensstarke Bano – mit ihrer Familie aus der Kurden Hauptstadt Erbil geflüchtet – zum ersten Mal das norwegische Trachtenkleid, die Bunad, trägt. Wie der charmante, kluge Simon in Nordnorwegen Freunde für die sozialdemokratische Partei wirbt – und erstmal die schönsten Mädchen einlädt. Wie sie sich auf der Insel zu beschützen versuchen gegen den schießenden Attentäter. Wie keiner von ihnen überlebt.
Schmerzhaft bewusst wird auch, was alles schiefging. Wie unkoordiniert die Polizei handelte, wie wenig Norwegen auf den Terror vorbereitet war. Während schwer bewaffnete Polizisten zum falschen Anleger fuhren, um dann mit dem überbesetzten Boot fast unterzugehen, tötete Breivik im Schnitt eine Person pro Minute.
Viele Beschreibungen sind verstörend detailliert. Der Leser taucht in die Welt des Massenmörders ein – in seinen Hass auf Muslime und die Sozialdemokraten, seinen Extremismus, seine Gedanken nach dem ersten Schuss („Von jetzt an war alles ganz einfach“), sein Wundern über den seufzerartigen Laut, der bei einem Treffer in den Kopf erklang. Sie greift auf, was der Massenmörder selbst im Verhör schilderte.
Die meisten Szenen könnten einem blutrünstigen Krimi entstammen: Die 16-jährige Elisabeth telefoniert in Todesangst mit ihrem Vater. „Dann war der Anruf plötzlich zu Ende“, schreibt Seierstad. „Eine Kugel war durch Elisabeths Gehörgang in ihren Schädel eingedrungen und aus dem anderen Ohr wieder ausgetreten. Erst in der rosafarbenen Handyhülle blieb sie stecken.“ Ihr Telefon würde nicht mehr klingeln, in der Nacht danach. Und man wünscht, es sei nur ein Roman.