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"Augmented Archive" Jahrestag - Die Revolution, die nicht stattfand

Es können Jahrzehnte verstreichen, bis Revolutionen, Bürgerkriege oder politische Umbrüche ins kollektive Gedächtnis finden. Von einer Vergangenheitsbewältigung sind arabische Staaten oft weit entfernt. Denn die Frage, wie erinnert wird, ist immer auch eine politische.

Von Johannes Schmitt-Tegge, dpa 25.01.2020, 01:00
Johannes Schmitt-Tegge
Johannes Schmitt-Tegge dpa

Kairo (dpa) - Die Panzer stehen direkt am Tahrir-Platz. Ein paar Soldaten warten im Halbkreis, Vögel zwitschern. Am Hochhaus, das zuvor als Sitz der Partei von Langzeitherrscher Husni Mubarak gedient hatte, steigt Rauch auf.

Einige Schritte entfernt, auf einer Hauptstraße in Kairos Innenstadt, ruhen die Stahlgerippe verkohlter Autowracks. Es ist der Morgen des 29. Januar 2011, und in Ägypten hat vor wenigen Tagen die Revolution begonnen.

Wer mit der Smartphone-App des Künstlers und Filmemachers Kaya Behkalam durch Kairo zieht, kann diese Ereignisse heute aufleben lassen. Um die 100 Videos sind im "Augmented Archive" gespeichert - Aufnahmen von Massenprotesten, fliehenden Demonstranten, aber auch von Zeitzeugen-Gesprächen - und verknüpft mit Orten des Geschehens. Ziel sei, das virtuelle Archivmaterial wieder "einzuschreiben in den öffentlichen Raum", sagt Behkalam der Deutschen Presse-Agentur.

Von einer Aufarbeitung oder einem öffentlichen Diskurs über die Revolution, die zum Sturz Mubaraks, dem Tod von mehr als 800 Zivilisten und weiteren Umbrüchen führte, ist Ägypten weit entfernt. Politiker sprechen lieber von "Ereignissen" oder "Vorfällen" dieser Tage. "Es gibt kein Monument außer der lächerlichen Fahnenstange und keinen Raum, das zu betrauern, zu erinnern oder zu verarbeiten", sagt Behkalam. Und selbst dieser Fahnenmast am Tahrir-Platz, der zum Symbol der Revolution geworden war auf Bildern, die um die Welt gingen, ist wegen Bauarbeiten nun verschwunden.

Die Bewältigung der Vergangenheit sei wegen der "sehr autokratischen Regierungen" im arabischen Raum überhaupt selten denkbar, sagt Geschichtsprofessor Makram Rabah von der Amerikanischen Universität Beirut. "Die Syrer werden damit zu kämpfen haben. Libyen ist noch schwieriger." Gefängnisliteratur - also etwa Schriften politischer Gefangener - seien noch am ehesten ein Versuch, auch verbotene und unterdrückte Inhalte als gemeinsame Historie anzuerkennen.

Marokko bewies 2004 das Gegenteil: In einem für die arabische Welt beispiellosen Verfahren fanden öffentliche Anhörungen über Folter und andere Menschenrechtsverletzungen in dem nordafrikanischen Land statt. Ehemalige politische Gefangene aus der Zeit der Unabhängigkeit ab 1956 erzählten von geheimen Kerkern, Folter und willkürlichen Festnahmen. Das Fernsehen übertrug live. Die Rede war von einem "Prozess der Katharsis" nach dem Vorbild der Wahrheitskommission, mit der Südafrika die Zeit des Apartheidsregimes abschließen wollte.

Im Libanon - einem der demokratischsten Staaten der Region - fehlt 30 Jahre nach dem Bürgerkrieg (1975-1990) immer noch ein passendes Narrativ der Vergangenheit. Auch, weil die religiösen Gruppen in dem konfessionell gespaltenen Land sich auf keine Deutung einigten, sagt Professor Rabah. 150.000 Menschen kamen schätzungsweise ums Leben, rund 17.000 verschwanden. Eine offizielle Opferzahl gibt es jedoch nicht, Schulbücher für den Geschichtsunterricht klammern das Thema aus. Letztes Kapitel: Abzug der Franzosen im Jahr 1946.

Als Erinnerungsstätte versucht sich das "Beit Beirut", Kulturzentrum und Wahrzeichen des Bürgerkriegs. Als Scharfschützen das stattliche Wohnhaus damals besetzten, wurde es von Einschüssen übersät. Zu sehen sind diese Narben der Geschichte bis heute. Auch die Organisation "Fighters for Peace", die Kämpfer und andere Zeitzeugen vom Krieg erzählen lässt, sind ein Versuch der Aufarbeitung. Ein kollektives Gedächtnis gebe es aber nicht, sagt Rabah. Stattdessen habe jede der 18 religiösen Gruppen im Land ihre eigene Version der Geschichte.

So hängen Denkmäler und Museen davon ab, ob eine Gesellschaft überhaupt zum geschichtlichen Konsens findet. "Museen können nicht unpolitisch sein. Jede Ausstellung ist irgendwie politisch", sagt Patricia Rahemipour, Leiterin des Berliner Instituts für Museumsforschung. Und statt eines Museums sei eine "Performance auf dem Marktplatz" oder ein anderes Format vielleicht "eindrücklicher, nachhaltiger und sinnstiftender als das, was Museen leisten können".

Orte wandeln sich - und die Geschichte eines Landes läuft Gefahr, damit ausgelöscht zu werden. Berlin habe ähnliche Probleme mit schwer belasteten Orten aus der Nazi-Vergangenheit, sagt Künstler Behkalam, der in Berlin und Kairo lebt. "Wie gehst Du damit um? Wenn es nicht den Raum gibt, Traumata zu bearbeiten oder zur Sprache zu bringen, dann bleiben sie gefangen und eingefroren."

Augmented Archive

Video-Archiv 858

Fighters for Peace

Beit Beirut