Blechlawinen-Blues Warum ist die andere Spur immer schneller?
Steht alles still, spielt der Kopf verrückt. So lässt sich die Wahrnehmung von vielen Autofahrern in Staus beschreiben. Das Problem: Dadurch dauert es am Ende für alle länger.

Duisburg - Es ist das Horrorszenario jeder Ferienfahrt: Auf bis zu 45 Kilometer staute sich der Verkehr zu Pfingsten vor einer Tunnelbaustelle auf der österreichischen Tauernautobahn. Für Tausende Urlauber ging es über Stunden nur im Schritttempo voran. Und die nächsten Megastaus drohen rund um Fronleichnam (19. Juni) und in der anstehenden Sommerferienzeit.
Staus sind eine Zerreißprobe für die Nerven, das kann jeder Autofahrer nachfühlen, der selbst schon einmal länger in einer Blechlawine festgesteckt hat. Wenn dann noch die eigene Spur stillsteht, während es auf der Nebenspur gemächlich vorangeht, reißt vielen der Geduldsfaden. Blinker an, ausgeschert und ab auf die andere Spur. Häufig bringt das wenig, doch es gibt eine Erklärung für dieses Verhalten: Es ist vor allem Kopfsache, sagt der Stauforscher Michael Schreckenberg im Interview.
Herr Schreckenberg, gibt es im Stau bessere und schlechtere Spuren?
Michael Schreckenberg: Es ist im Wesentlichen ein psychologischer Effekt, der uns häufig denken lässt, dass es immer auf der anderen Spur schneller vorangeht. Das liegt daran, dass die Fahrzeuge, die uns überholt haben, vor uns fahren und sich dadurch stärker einprägen. Das ärgert uns. Autos, die wir überholt haben, verschwinden dagegen aus den Augen und aus dem Sinn.
Studien haben gezeigt, dass Autofahrer im Stau das Gefühl haben, von doppelt so viel Fahrzeugen überholt zu werden, wie sie selbst überholt haben. Ein Verhältnis von zwei zu eins. Das führt dazu, dass man versucht, diese wahrgenommene Ungerechtigkeit auszugleichen. Deshalb wechselt man die Spur.
Und macht es dadurch nur noch schlimmer?
Schreckenberg: Dadurch passieren zwei Dinge. Erstens: Die Vorteile der Spuren werden sofort ausgeglichen. War eine Spur einen Moment schneller, ist das durch den Spurwechsel aufgehoben. Und zweitens: Weil ich die Spur wechsle, erzeuge ich eventuell nach hinten eine Stauwelle. Das passiert, wenn ich die Autos auf der Spur, auf die ich wechsle, zum Bremsen zwinge. So entsteht ein Dominoeffekt. Der Erste hinter mir bremst und alle weiteren müssen auch bremsen.
Nur derjenige, der die Stauwelle durch seinen Spurwechsel auslöst, bekommt das nie mit. Autofahrer denken nur nach vorne. Man kann sich aber bewusst machen: Ich selbst stehe auch in Stauwellen, die von anderen verursacht worden sind, die vor mir fahren.
Also ist es der beste Rat, sich im Sinne aller am Stauende für eine Spur zu entscheiden und dann dort zu bleiben?
Schreckenberg: Das ist für das gesamte Verkehrsgeschehen besser, ja. Das gilt auch, wenn Spuren wegfallen und man sich einfädeln muss. Der Reißverschluss funktioniert eigentlich nur, wenn alle bis zu der Stelle vorfahren, wo die Spur endet und sich dann kooperativ zusammen auf einer Spur finden. Doch es gibt ja immer die Autofahrer, die direkt auf die andere Spur wechseln, wenn die Verengung auf einem Schild das erste Mal angekündigt wird. Dadurch wird der Stau länger.
Spannend ist: Die Kapazität der Spur, die danach etwa durch die Baustelle führt, wird oft überhaupt nicht ausgenutzt. Das haben wir in Untersuchungen herausgefunden. Da könnten viel mehr Autos gleichzeitig fahren, wenn an dem Trichter vorher beim Einfädeln nicht so gekämpft werden würde.
ZUR PERSON: Der Physiker Prof. Michael Schreckenberg ist Deutschlands bekanntester Stauexperte. Er hält an der Universität Duisberg-Essen seit 1997 den Lehrstuhl „Physik von Transport und Verkehr“ und erforscht unter anderem, wie es im Straßenverkehr besser fließen kann. Stau sei zwar ein physikalischer Effekt, sagt er. „Doch die Psychologie spielt eine entscheidende Rolle.“