1. Startseite
  2. >
  3. Leben
  4. >
  5. Ein Leben an der Grenze zum Tod

Täglich schlagen sich Tausende Somalier zu Flüchtlingscamps in Äthiopien und Kenia durch. Von Bernd Kaufholz Ein Leben an der Grenze zum Tod

11.11.2011, 04:21

Dolo im Südwesten Somalias. Unmittelbar an der Grenze zu Äthiopien. Die Sonne heizt mit mehr als 40 Grad den rotgrauen Staub auf. Unter einem Vordach drängen sich Frauen. Die meisten mit einem Kleinkind im Arm oder einem Baby auf dem Rücken. Entkräftet, geschunden, krank - aber mit einem kleinen Hoffnungsfunken im Herzen, dass der oft wochenlange Weg durch die Todeszone vorerst ein Ende hat.

Die "Auffangstation" für Flüchtlinge auf dem Weg zum Camp Dollo Ado auf der äthiopischen Seite. "UNICEF-Land" im bürgerkriegs- und dürregeschüttelten Somalia.

Mittlerweile herrscht in fünf Regionen offizielle Hungersnot. Und Experten sagen voraus, dass bis Weihnachten zwei weitere Landesteile hinzu kommen werden. UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, spricht von Hungersnot, wenn mehr als 30 Prozent der Menschen an akuter Mangelernährung leiden oder jeden Tag mehr als zwei von 10000 Menschen beziehungsweise vier von 10000 Kindern in einem Gebiet sterben.

Das ist die aktuelle Situation in Somalia sowie Teilen von Äthiopien und Kenia.

@063n Zitat Linie Magazin:"Zu Hause hätten wir nur sterben können"

Faduma gehört zu den knapp 120000 Somaliern, die seit August dieses Jahres über Dolo nach Dollo Ado gekommen sind. Die 15-Jährige lebte im Wajid-Distrikt im Süden des Landes. Mit ihrem Sohn Nurow auf dem Rücken hat sie die 115 Kilometer in sieben Tagen zu Fuß zurückgelegt. Nun ist sie am Ende ihrer Kräfte.

Nurow wimmert, als ihn Mitarbeiter der Hilfsorganisation vorsichtig aus den Armen seiner Mutter nehmen. Die Blicke der geschwächten Frau sind ebenso ängstlich wie die ihres Sohnes, als er in eine Art Zaumzeug gehängt wird - am oberen Ende eine Gewichtsanzeige. Sie zeigt 7,3 Kilogramm an. Das Normalgewicht wären etwa 12. Dabei gehört Nurow noch zu den besser ernährten Kindern.

"Nichts zu essen. Immer Hunger", sagt Faduma leise. "Viele von meinem Clan sind schon hier her gekommen. Zu Hause hätten wir nur sterben können."

Amina, die neben der 15-Jährigen sitzt, nickt zustimmend. Sie kommt aus Elbon - 200 Kilometer entfernt. Sie war mit acht Kindern unterwegs. "Ich will hier bleiben", sagt sie. "Warum soll ich zurück? Da ist nichts." Lieber unter Tausenden in einem Flüchtlingscamp leben, als täglich den Hungertod vor Augen zu haben, meint sie.

Die 40-Jährige hat klare Wünsche für ihre Kinder: "Immer Essen. Eine bessere Zukunft. Ein besseres Leben."

Das Wiegen gehört zur Registrierung der Neuankömmlinge, ebenso die Unterschrift per Fingerabdruck auf dem Registrierungsschein. Farah Roble Mohamud, der als Gesundheitshelfer für UNICEf arbeitet, kennt die Probleme der Kinder: "An erster Stelle die Unterernährung. Hinzu kommen Durchfall, Fieber, Erkältungen." Diese mehrfach geschwächten Kinder kommen unverzüglich ins Krankenhaus. Die "nur" Unterernährten erhalten noch vor Ort

@063n Zitat Linie Magazin:"Ich werde bleiben, des Essens wegen, trotz des Heimwehs"

"Plumpy Nut" - eine hochenergetische Paste auf Erdnussbasis, angereichert mit Vitaminen und Mineralien, die auch extrem Ausgezehrte verdauen können. 15o Packungen der lebensrettenden Erdnusspaste kosten 55,50 Euro.

Nach einigen Tagen haben sich die meisten Kinder schon soweit erholt, dass sie wieder feste Nahrung aufnehmen können.

Allein in Somalia sind 450000 Kinder unter fünf Jahren akut mangelernährt, darunter 190000 in einem lebensbedrohlichen Zustand. Zehntausende Menschen sind in den vergangenen Monaten gestorben. Jedes zweite Opfer - so UN-Experten - war ein Kind. In den meisten Gebieten Südsomalias ist inzwischen jedes sechste Kind in Lebensgefahr. Mehr als die Hälfte der somalischen Bevölkerung ist von der Hungerkrise betroffen.

Während Farah Roble Mohamud eine weitere Packung "Plumpy Nut" austeilt, wird Annas ein grün-rotes Maßband ums Handgelenk gelegt. Grün bedeutet unkritischer Ernährungszustand, Rot: Gefahr. Die Mutter des Kindes - Fadema Ali - hat ihren Mann durch Kämpfe zwischen rivalisierenden Clans verloren. Die 45-Jährige ist mit ihren acht Kindern aus der verdorrten Loug-Gedo-Region nach Dolo gekommen. Sie war fünf Tage unterwegs: "Immer nachts und nicht auf den Hauptpisten", sagt sie, "aus Angst vor den Milizen".

Halima Garemi rührt in einem von drei großen eisernen Töpfen, die im Freien auf offenem Feuer stehen. Im Topf kocht eine Mais-Soja-Mischung, Öl und Hülsenfrüchte. UNICEF und ihre Partner bieten zum ersten Mal diese Art von warmer Mahlzeit - sogenanntes Wet Feeding - an. In den kommenden Monaten sollen so allein in Somalia 200000 Familien versorgt werden. Da fast alle Hungernden nur das mitgebracht haben, was sie auf dem Leibe tragen, bekommen sie Teller und Löffel. Bevor die Mütter und ihre Kinder jedoch mit einer warmen Mahlzeit in das UNICEF-Zelt gehen können, steht ein Behälter mit Waschwasser. "Hygiene wird bei uns groß geschrieben", so ein Mitarbeiter des Kinderhilfswerks. "Bei solch großer Zahl von Flüchtlingen ist das unbedingt nötig."

Anna Sophia ist 30 Jahre alt. Sie sitzt draußen vorm Zelt und berichtet über ihren langen Weg bis nach Dolo. "Ich werde hier bleiben", sagt die 30-Jährige - wie die meisten der Flüchtlinge Nomadin - und spricht von den Kämpfen in ihrem Land, in dem es keinerlei feste Strukturen mehr gibt. Dafür jedoch drei Präsidenten, drei Regierungen und drei "Armeen". Und nun noch das lange Ausbleiben des Regens, das Verdorren der Pflanzen und der Tod des Viehs - Ziegen, Schafe und Kamele.

Jeden Tag habe sie Hunger gehabt und Angst vor dem Tod. Zwei ihrer Kinder seien bereits gestorben. "Ich bleibe hier", sagt sie. "Des Essens wegen. Trotz des Heimwehs."

Hinter einem hohen Zaun warten seit Stunden Frauen. Der Maschendraht trennt sie von den Nahrungsmitteln, die abgeladen werden. Die Bewachung teilen sich kalaschnikowbewaffnete somalische und äthiopische Soldaten. Die Flüchtlinge leben im sogenannten Transit-Camp, in dem sie eigentlich nur so lange bleiben sollen, bis sie die letzten Kilometer bis nach Dollow Ado antreten können. Doch ist es schwer, die Übersicht zu behalten. Das Übergangs-Camp wird Tag für Tag größer. Ein großes Problem ist die Hygiene. Fallen doch täglich rund 10000 Kubikmeter Fäkalien an. Zur Zeit finde keinerlei Transit statt, sagen UNICEF-Mitarbeiter.

Die "Manyattas", die halbrunden, aus einem Astgerüst gebauten und hier im Camp mit Plastikplanen, Pappe oder Stofffetzen notdürftig verkleideten Nomaden-Unterkünfte, reihen sich aneinander. Wie die Zukunft der darin hausenden Menschen aussehen wird, kann niemand voraussagen. Zur Zeit gilt es, die Flüchtlinge aus ihrem Teufelskreis eines Lebens an der Grenze zum Tod zu befreien. Und da hilft schon eine Spende von fünf Euro.