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Autismus im Alltag „Mischa ist mein Schmerz und meine Liebe“ – was Familien mit autistischen Kindern oft alleine tragen müssen

Wenn ein Kind laut schreit, greifen viele intuitiv ein – doch bei autistischen Kindern kann genau das alles schlimmer machen. Wie Mutter Daria, Betroffene wie Holly und eine Expertin erklären, was hilft – und was dringend anders werden muss.

Von Olga Eisenmann 04.08.2025, 13:31
Eigentlich sollte es ins Schwimmbad gehen, doch da wäre der kleine Mischa kaum zu halten gewesen. Bei dem Wetter ungünstig. Also Piratenschiff. Damit der Fünfjährige nicht unkontrolliert vom Klettergerüst springt, hält ihn seine Mutter Daria behutsam fest. Mischa ist Autist. Er braucht viel Geduld und Verständnis.
Eigentlich sollte es ins Schwimmbad gehen, doch da wäre der kleine Mischa kaum zu halten gewesen. Bei dem Wetter ungünstig. Also Piratenschiff. Damit der Fünfjährige nicht unkontrolliert vom Klettergerüst springt, hält ihn seine Mutter Daria behutsam fest. Mischa ist Autist. Er braucht viel Geduld und Verständnis. (Foto: Jessica Quick)

Halle (Saale). Als Mischa ein Kleinkind war, sprach er seine ersten Worte: „Mama, Papa“ – so wie viele andere Kinder, auch seine ältere Schwester Alexandra. Doch ihre Mutter Daria bemerkte früh, dass sich ihr Sohn anders entwickelte: Mischa suchte keinen Blickkontakt, zeigte kaum Emotionen – selbst nicht bei Dingen, die ihm Freude machten. Wenn er Eis aß, schmatzte er nicht genüsslich, grinste nicht wie andere Kinder.

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Frühe Anzeichen – und eine schwere Diagnose

Nach und nach wurde der zweifachen Mutter aus Halle klar: Mischa ist anders. Mit drei Jahren erhielt Mischa in der Ukraine die Diagnose Autismus.

Kurz darauf wurde diese Diagnose auch in Deutschland, dem neuen Zuhause der Familie, bestätigt. Heute ist Mischa fünf Jahre alt – aber seine Mutter Daria sagt: „Eigentlich ist er eher wie ein Dreijähriger.“ Die gebürtige Ukrainerin investiert viel Zeit in die Förderung ihres Sohnes.

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Gemeinsam üben sie Farben und Formen, machen kleine Sportaufgaben zur Koordination. „Es war sehr schwierig all die Jahre. Ich habe jeden Tag geweint. Aber ich habe weitergemacht, ich muss, ich bin Mama“, sagt Daria mit einem Lächeln.

Warum viele autistische Kinder im Kindergarten überfordert sind

Im Kindergarten gab es viele Probleme. Mischa reagierte häufig mit Wut oder lautem Schreien – Reaktionen, die auf Überforderung und Reizüberflutung hinweisen. Fachleute sprechen in solchen Fällen von einem sogenannten Overload.

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Was hilft – und was nicht Auch Holly kennt dieses Gefühl. Die Mittzwanzigerin ist selbst Autistin und erhielt ihre Diagnose erst während ihres Studiums.

Heute weiß sie: Sie nimmt sensorische Reize wie Licht, Geräusche oder Gerüche deutlich intensiver wahr als andere. „Wenn ich zum Beispiel ohne meine Noise-Cancelling-Kopfhörer einkaufen gehe, brauche ich danach das ganze Wochenende zur Erholung. Ich dunkle mein Zimmer ab, setze die Kopfhörer auf und ziehe mich komplett zurück.“

Wie Betroffene mit sogenannten Shutdowns und Meltdowns leben

Wie Mischa kämpft auch Holly mit Overloads, also Situationen, in denen das Gehirn durch zu viele Reize überlastet wird. Bei ihr führt das oft zu einem sogenannten Shutdown. „Das ist, als wäre ich ein Elektrogerät im Standby-Modus.

Ich merke dann nicht mehr, ob ich Hunger habe oder auf die Toilette muss.“ In seltenen Fällen gerät sie stattdessen in einen Meltdown, eine Art unkontrollierten Wutanfall. „Dann schreie ich, möchte nicht angefasst werden, alles ist zu viel“, sagt sie.

Genau so kann es auch autistischen Kindern im Kindergarten ergehen. Viele Menschen würden intuitiv versuchen, ein Kind in einem Wutanfall zu beruhigen – mit tröstenden Worten oder einer liebevollen Berührung.

Doch bei autistischen Kindern kann genau das die Situation verschlimmern. „Noch mehr Reize – das ist das Letzte, was wir dann brauchen“, erklärt Holly.

"Volle Fahrt voraus": Daria meistert das Leben mit ihrem Sohn autistischen Mischa. Das ist nicht immer einfach.
"Volle Fahrt voraus": Daria meistert das Leben mit ihrem Sohn autistischen Mischa. Das ist nicht immer einfach.
(Foto: Jessica Quick)

Wichtig sind vor allem Verständnis und Aufklärung. Denn Autismus äußert sich bei jedem Menschen anders. „Kennst du einen Autisten, kennst du EINEN Autisten“, zitiert Holly ein geläufiges Sprichwort aus ihrer autistischen Community.

Viele Autistinnen und Autisten entwickeln eigene Wege, um sich im Alltag zu beruhigen – sogenanntes Stimming. Mischa zum Beispiel nimmt sich oft einen Topfdeckel und dreht ihn auf dem Boden. Das hilft ihm, sich zu regulieren.

Es gibt auch spezielle Stimming-Toys wie Ringe oder Fidget-Spinner – inzwischen auch bei vielen nicht-autistischen Menschen beliebt. Ohne es zu wissen, verwenden viele Menschen unbewusst ganz ähnliche Taktiken, um sich in Stresssituationen zu beruhigen.

Holly spielt oft an ihren Fingernägeln herum. Am liebsten versteckt sie ihre Hände dabei in der Hosentasche, damit es niemand sieht. Sie hat gelernt, sich anzupassen, nicht aufzufallen.

Autismus bei Mädchen wird oft spät erkannt

Viele autistische Frauen erhalten ihre Diagnose erst spät. Lange galt Autismus als „männlich“. Viele Diagnosekriterien orientieren sich bis heute an typischen Jungeninteressen wie Zügen, Technik oder Zahlen.

Studien zeigen: Mädchen beginnen oft schon früh mit dem sogenannten Masking, also dem Verbergen ihrer Symptome und dem bewussten Anpassen an ihr Umfeld.

Warum Aufklärung in Kitas und Schulen so wichtig ist

Carina Schipp, Dozentin am Institut für Rehabilitationspädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle, hat viele Familien begleitet. Sie weiß: Schon kleine Kinder können Masking betreiben. Im Kindergarten wirken sie oft unauffällig. Aber zu Hause entlädt sich dann der angestaute Stress.

Anlaufstellen und Hilfe in Sachsen-Anhalt

Autismus, genauer gesagt Autismus-Spektrum-Störung (ASS), ist eine neurologisch bedingte Besonderheit in der Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und im sozialen Verhalten. Autismus ist keine Krankheit. Menschen im Autismus-Spektrum nehmen die Welt anders wahr – sie denken, fühlen und reagieren oft anders als neurotypische Menschen (also solche ohne Autismus).

Für Eltern autistischer Kinder und Jugendlicher sowie für erwachsene Autistinnen und Autisten gibt es in Sachsen-Anhalt zahlreiche Anlaufstellen, die mit Rat und Unterstützung zur Seite stehen.

In der Autismusambulanz Halle gibt es Einzelgespräche, individuelle Förderangebote und Beratungen speziell für Angehörige.
Einmal im Monat treffen sich „Die starken Autisten“, eine Selbsthilfegruppe aus Halle. Carina Schipp vom Rehabilitationsinstitut der Martin-Luther-Universität weist darauf hin, dass Autismus häufig erst im Erwachsenenalter erkannt wird.

Das Autismuszentrum in Magdeburg hält ein vergleichbares Angebot bereit. Neben ambulanter und stationärer Betreuung werden dort auch Freizeitaktivitäten für Betroffene organisiert.

Die Kinder „explodieren“. Deshalb plädiert die Wissenschaftlerin für mehr Aufklärung – gerade in Kitas und Schulen. „Das Beste ist, mit dem Kind gemeinsam herauszufinden, was es braucht, damit es in der Schule nicht dauerangespannt sein muss.“

In Mischas Kindergarten gibt es keine speziell geschulten Fachkräfte. Eine Integrationsbegleiterin hilft ihm, aber wenn sie krank ist, muss Daria Urlaub nehmen. Ihre Urlaubstage sind fast aufgebraucht.

Was Familien sich wirklich wünschen – und oft nicht bekommen

Was sie sich wünscht? Mehr Fachstellen, mehr Autismuszentren und mehr Verständnis. Stattdessen erlebt sie oft das Gegenteil: „Neulich im Schwimmbad hat ein Mann meinen Sohn angeschrien: ,Halt deinen Mund!’ Dabei hat Mischa nur vor Freude laut geschrien. Mein Mann hat ihm gesagt: ,Er ist Autist, er kann seine Gefühle nicht gut regulieren, aber er sagt nichts Schlechtes’.“

Daria hat diesen Satz schon zu oft gesagt: „Mein Kind hat Autismus.“ Und doch fällt es ihr noch immer schwer, zu akzeptieren, dass ihr Sohn anders ist als andere Kinder. Dass er mehr Unterstützung braucht.

„Mischa ist mein Schmerz und meine Liebe“, sagt sie. „Wir lieben ihn. Aber es ist sehr schwer. Nicht nur für uns. Viele Familien mit autistischen Kindern kennen diesen Schmerz“, denkt die Mutter.