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Machtlos, wenn Kinder Schule schwänzen? Eltern müssen deutlich machen: Der Schulbesuch muss stattfinden

Henri geht regelmäßig nicht in die Schule. Tausende andere Kinder schwänzen auch. Die Gründe dafür sind vielfältig, die Konsequenzen aber sind verheerend.

Von Leonie Schulte Aktualisiert: 08.04.2024, 13:37
Für Schulschwänzer gibt es oft einen wichtigen Grund.
Für Schulschwänzer gibt es oft einen wichtigen Grund. (Foto: dpa)

Die ersten zwei Stunden hatte er schon verpasst. Arzttermin. Eigentlich eine Lappalie. „Na, wieder blaugemacht?“, rufen die Jungs vom Pausenhof, noch bevor Henri* den Fuß aus der Beifahrertür streckt. Statt aus dem Auto auszusteigen, legt sich Henri auf die Rückbank, fängt an zu schwitzen, zu zittern. „Das war der Schlüsselmoment“, sagt Sandra Dreier. „Von da an ging nichts mehr.“

Als sie an diesem Morgen ihren Sohn durch den Rückspiegel in ihrem Auto liegen sieht, ahnt Sandra noch nicht, dass es Monate und einen Klinikaufenthalt dauern würde, bis der Siebtklässler wieder einen Fuß in die Gesamtschule würde setzen können. Eine Zeit, die allen Familienmitgliedern an die Substanz gehen wird. Und ein Schicksal, das Dreiers mit vielen Familien in Deutschland teilen.

Dabei ist es auch für Bildungsexperten wie Heinrich Ricking, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Leipzig, nicht leicht, das Ausmaß von Schulabsentismus, wie das regelmäßige unentschuldigte Fehlen im Fachjargon heißt, in Deutschland konkret zu bestimmen. Hinweise geben die jüngsten Pisa-Erhebungen, in denen elf Prozent (für 2022) der 15-jährigen Schüler angeben, in den vergangenen zwei Wochen mindestens einen Tag geschwänzt zu haben. Schon in der Grundschule verpassen aber bereits zwölf Prozent mehr als zehn Prozent des Unterrichts.

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Wissenschaftler Ricking schätzt, dass etwa die Hälfte aller Schüler im Laufe ihrer Schulkarriere auch mal blaumachen wird. Das allein muss gar keine großen Folgen haben. Je nach Schulleistung könnten Fehlstunden gut kompensiert werden. Doch Ricking mahnt: „Ein Schüler, der mit dem Stoff hadert, der bereits kämpfen muss, den können die Fehlzeiten in den Abgrund reißen.“ Wird also aus gelegentlichem Schwänzen ein regelmäßiges, kann das zum Problem werden – und sogar bis zu seiner Extremform, dem Schulabbruch, führen. Laut Bertelsmann-Studie verlassen 6,2 Prozent der Schüler in Deutschland die Schule ohne Abschluss. Die Quote stagniert seit zehn Jahren.

Gründe fürs Schwänzen sind vielschichtig

Es gibt also viele gute Gründe, das Problem ernst zu nehmen und nach Lösungen zu suchen. Das bedeutet zunächst, die Ursachen besser zu verstehen. Der Wissenschaftler Heinrich Ricking unterscheidet drei Bereiche. Zum einen ist hier das Thema Benachteiligung: Kinder, die von Armut betroffen sind, die aus bildungsfernen Familien stammen oder in schwierigen sozialen Lagen leben, haben es in der Schule besonders schwer. Sie sind oft nicht gut auf die Anforderungen vorbereitet und erleben in der Folge weniger Erfolgserlebnisse und mehr Frust. Kommen immer mehr negative Erfahrungen in der Schule dazu, gehen Kinder und Jugendliche weiter auf Distanz – bis sie sich irgendwann ganz von der Schule entkoppeln.

Misserfolg ist einer der Gründe, die Schule zu schwänzen.
Misserfolg ist einer der Gründe, die Schule zu schwänzen.
(Symbolfoto: IMAGO/Zoonar)

Eine weiterer, bislang aber weniger erforschter Grund sei das Zurückhalten durch Eltern. Mütter und Väter also, die Kinder zu Hause behalten, statt in die Schule zu schicken. Und auch das habe unterschiedliche Gründe: chronische Krankheiten der Eltern, Süchte, psychische Störungen zum Beispiel. Die Kinder übernehmen dann die Kümmerrolle in der Familie. In anderen Fällen lehnen Eltern die staatlichen Schulen ab, auch Vernachlässigung und Missbrauch könnten dazu führen, dass Kinder zu Hause bleiben müssen. Wie groß genau das Problem des Zurückhaltens ist, lasse sich noch schwer beziffern, sagt Ricking. Eigene Studien deuteten auf zehn bis 15 Prozent aller Fälle, in denen Kinder und Jugendliche der Schule fernbleiben, hin. Andere Studien kommen auf Werte bis zu 30 Prozent.

Deutlich besser erforscht ist der dritte Grund für Absentismus: die Angst. Dazu zählen Angststörungen im Allgemeinen, Trennungsängste, Angst vor der Schule, vor dem Versagen oder auch vor Mobbing. Für die Kinder und Jugendlichen sind das alles ganz reale Bedrohungsszenarien. Und eine natürlich Reaktion auf Angst ist: Vermeidung.

Eltern müssen deutlich machen: Der Schulbesuch muss stattfinden. Vermeidung ist keine Lösung.

Dr. Martin Knollmann Förderpädagoge

Wie groß Henris Angst gewesen ist, war Mutter Sandra bis zu dieser Panikattacke im Auto gar nicht klar. Lange Zeit war Schule für Henri der Ort, an dem er seine Freunde treffen konnte. Ein guter Ort also. Dann kam Corona. „Im Homeschooling hab ich einen großen Schreck bekommen“, erzählt die alleinerziehende Mutter von vier Kindern. „Da habe ich erst bemerkt, welche Defizite er hat und wie schwer es ihm fällt, die Aufgaben zu schaffen.“ Auf einmal hatte Schule einen ganz anderen Stellenwert, und Henri – wieder zurück im Unterricht – bekam Angst davor, etwas Falsches zu sagen. „Warum kriegen die anderen das hin und ich nicht?!“ Mit Fragen wie dieser kam er immer wieder nach Hause. Bis er das Haus irgendwann gar nicht mehr verlassen wollte.

Martin Knollmann ist Psychologe in der LVR-Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters in Essen
Martin Knollmann ist Psychologe in der LVR-Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters in Essen
(Foto: Uni-Klinik Essen)

Konkrete Zahlen dazu, ob und wie die Corona-Pandemie mit all ihren Herausforderungen die Quoten von Absentismus und Schulabbruch beeinflusst haben könnte, liegen noch nicht vor. Experten wie Ricking oder auch der Psychologe Martin Knollmann gehen davon aus, dass Pandemie und Schulschließungen als eine Art Verstärker gewirkt haben könnten.

So war es auch bei Lilli, heute 18 Jahre alt. „Mein Zustand vorher war schon kritisch. Dann aber kam Corona, und mir war Schule einfach nur noch egal.“ Einen großen Teil ihrer neunten Klasse hat die Gymnasiastin im Homeschooling verbracht. Monate, in denen sie an keinen Zoom-Calls teilnahm, keine einzige Aufgabe erledigte. In denen sie grübelte, Ängste hatte, die Sorgen kein Ende fanden.

„Ich hab’ eine Sechs nach der anderen bekommen und mir war es einfach egal“, erinnert sich Lilli. „Nach den Gründen, warum ich nie was abgegeben habe, wurde ich nie gefragt. Dabei war es ja gar nicht so, dass ich keinen Bock hatte. Ich hatte wirklich psychische Probleme.“ Der Tag, an dem das Homeschooling endlich ein Ende hatte und ihre Mitschüler wieder zurück in die Klasse kamen, war Lillis erster Tag in der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Es gibt Frühwarnzeichen

Hätten Henris und Lillis Eltern, ihre Lehrer etwas ahnen können? Vielleicht. „Schulvermeidung fängt nicht erst beim Fehlen an“, sagt Martin Knollmann. Er ist Psychologe in der LVR-Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters in Essen und arbeitet dort in der Schulvermeiderambulanz. Meist gebe es Frühwarnzeichen. Psychosomatische Symptome zum Beispiel: morgens vermehrt Übelkeit, Kopfschmerzen, Durchfall. Es kann aber auch unspezifisch sein, plötzliche Leistungseinbrüche etwa, Kinder, die stiller werden und sich zurückziehen oder die plötzlich durch Konflikte und körperliche Auseinandersetzungen auffallen. All das könnten Hinweise darauf sein, dass etwas nicht stimmt. Doch für Eltern bleibt große Unsicherheit: Wann wird aus einem Kopfschmerz am Morgen eine Vermeidungsstrategie? Und wie viel Druck sollten sie ihren Kindern machen?

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Die Schulen müssen signalisieren: Wir kümmern uns um dich! „Ich empfehle Eltern immer eine Mischung aus viel Verständnis und Empathie“, sagt Knollmann. Es lohne sich, frühzeitig pädagogische oder therapeutische Hilfen zu organisieren. „Und gleichzeitig müssen sie deutlich machen: Der Schulbesuch muss stattfinden. Vermeidung ist keine Lösung.“ Denn mit jedem Tag der Vermeidung werde es schwerer, sich zu überwinden. Knollmann wirbt für mehr Achtsamkeit, ein besseres Monitoring und einen unmittelbaren Draht zu den Eltern.

Bildungsexperten wie Heinrich Ricking, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Leipzig
Bildungsexperten wie Heinrich Ricking, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Leipzig
(Foto: Privat)

Henris Fehlen fiel auf, in der Schule und zu Hause. Seine Mutter suchte den Kontakt zur Schule, blieb im ständigen Austausch mit den Lehrkräften. An guten Tagen fuhr Henri morgens sogar los Richtung Schule, kehrte aber auf halbem Wege wieder um. An anderen Morgen verlor er völlig den Halt. „Einmal ist er auf Socken aus dem Haus gestürmt“, erzählt seine Mutter. „An einem anderen Tag ist er kilometerweit am Kanal entlang gefahren. So lange, bis er nicht mehr wusste, wo er war.“ Die Not des Jungen war groß, die Hilflosigkeit der Erwachsenen ebenfalls. Bis zu dem Tag, als Henri in die Klinik kam. Auch Lilli bekam nach langer Suche einen Therapieplatz. Ein Wendepunkt. Die neunte Klasse konnte sie abschließen. Inzwischen lernt sie fürs Abitur.

Henri fasste nach der Therapie neuen Mut und kehrte nach fünf Monaten zurück in die Klasse. Während seine Mutter von den Erfahrungen der letzten Jahre berichtet, klingelt das Telefon. Die Schule. Henri fehlte zuletzt wieder sehr oft. „Er ist wirklich krank gewesen“, sagt Sandra Dreier, trotzdem schaut sie noch mal genau in die Unterlagen. Sie ist penibel geworden mit den Entschuldigungen. Und erschöpft ist sie. „Ich bin froh, wenn wir das Thema Schule einfach hinter uns haben“, sagt sie. Noch eineinhalb Jahre, dann ist Schluss. Zehnte Klasse, das reicht Henri. Aber im Gegensatz zu früher hat er inzwischen eine Perspektive: erst das Praktikum, dann Ausbildung. Kfz-Mechaniker, das wäre sein Traum.

*Die Namen der Familie sind von der Redaktion geändert.