Momfluencerin Julie Tan 300.000 Follower lachen über das Familienchaos – und erkennen sich selbst wieder
Julie Tan, die Hallenserin hinter „cocolie.brokkoli“, zeigt auf Instagram, wie chaotisch und ehrlich Familienleben wirklich ist. Mit Humor, nackter Wahrheit und einem Funken Ernst schafft sie einen Raum, in dem Mütter sich verstanden fühlen – und sich vom gesellschaftlichen Druck lösen können.
Halle (Saale). Julie Tan sitzt auf dem Boden ihrer Küche, umringt von Spielzeug, dem Müll, der noch rausgebracht werden will, und isst Reis direkt aus dem Reiskocher. „Unsere Abendroutine als Familie“ ist das Video auf Instagram untertitelt. Dort bloggt die gebürtige Hallenserin unter dem Namen „cocolie.brokkoli“ und nimmt als sogenannte Momfluencerin den Familienalltag und sich selbst auf die Schippe.
Vom Reiskocher ins Netz: Wie Julie Tan Instagram erobert
In diesen ironisch-überspitzten Videos steckt genügend Wahrheit, um bei vielen Müttern auf Instagram Anklang zu finden. Mittlerweile folgen Julie dort mehr als 300.000 Menschen, ihre Posts erreichen teilweise bis zu eine Million Aufrufe.
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Dabei ist die 38-Jährige sich nicht zu schade mit angeklebtem Bart, Schneebesen im Haar oder neonfarbenem 80er-Outfit vor die Kamera zu treten. „Das bin 100 Prozent ich“, sagt Tan und sieht das als großen Luxus. „Ich habe einen Beruf gefunden, bei dem ich keine Maske aufziehen muss.“
Das einzige Tabu auf ihrem Kanal sind die Namen und Gesichter ihrer Kinder. Für Tan und ihren Ehemann war das von Anfang an klar: „Ich möchte die Privatsphäre meiner Kinder schützen, solange sie nicht selbst entscheiden können.“ Beide sind mittlerweile im Grundschulalter. In den Posts sind sie lediglich zensiert zu sehen.
Druck perfekter Mütter – und wie Humor befreit
Im Vordergrund stehen schließlich die Mütter. Auch Tans Social-Media-Erfolg startete mit der Schwangerschaft und Geburt ihres ersten Kindes im Jahr 2018. Sie sah sich – wie viele werdende Mütter – einem plötzlichen gesellschaftlichen Druck ausgesetzt.
Auch befeuert durch Instagram, wo scheinbar perfekte Mütter mit perfekten Kindern ihr perfektes Leben posten. „Das war ein Punkt, der mich unglücklich gemacht hat“, sagt Tan. Sie selbst habe daraufhin versucht, sich mehr von diesen Erwartungen zu lösen, und gemerkt, dass genau das ein Thema für Social Media ist.
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„Es ist meine Mission, andere Mütter zu unterstützen, sich von dem gesellschaftlichen Druck zu befreien“, sagt sie. Ihre Followerschaft begrüßt die chaotische Authentizität in den Videos.
In den Kommentaren unter den Beiträgen findet sich vor allem viel Zuspruch. Eine Nutzerin schreibt: „Das könnte auch ich sein.“ Ihre Followerschaft findet, Julie unterscheide sich von anderen Momfluencerinnen. „Was sie vermissen, ist die ungeschönten Seiten der Mutterschaft schonungslos zu repräsentieren“, glaubt Julie.
Chaos als Erfolgsrezept: Warum echte Einblicke so gut ankommen
Am besten würden die Videos ankommen, in denen sie ihr unaufgeräumtes Haus filmt. Es zeigt einen Drang unter Müttern, sich verstanden zu fühlen. Nicht allein zu sein mit den Wäschebergen, den Geschirrstapeln und dem dritten Topf Nudeln in der Woche.
Damit scheint die Influencerin einen sicheren Raum für Mütter zu schaffen, in dem sie zumindest für einen kurzen Moment den äußeren Erwartungen entkommen. Auch in den Direktnachrichten fragen Nutzerinnen sie um Rat und Verständnis: „Wie kriegst du das alles hin?“
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Hier wird deutlich, dass sich auch Tan in dem Social-Media-Kosmos befindet. Nach Außen kann ihr Leben nahezu perfekt wirken. Als Influencerin und normschöne Frau befindet sie sich in einer privilegierten Position. Sie verdient damit Geld. Am Ende des Tages zeigt sie dort eine gefilterte Version ihres Alltags als Mutter. „Streits oder Diskussionen habe ich noch nie mitgefilmt“, räumt sie ein. Dennoch ist Tan überzeugt: Authentizität und Glaubwürdigkeit waren der Schlüssel zu ihrem Erfolg.
Mama-Netzwerk Nr. 1: Authentizität als Geschäftsmodell
Nach einem ersten Blog entschied sie sich 2021 für einen Neustart mit dem aktuellen Instagram-Profil. Die Inspiration zum Namen lieferten ihre Kinder, bei denen das grüne Gemüse eben „Cocolie“ hieß. Mit ihrem ersten viralen Comedy-Video ist die Community immer weiter gewachsen und sie erhielt erste Kooperationsanfragen von Unternehmen.
„Da habe ich gemerkt: Ich kann meine Leidenschaft mit etwas Geschäftlichem verbinden“, erinnert sich Tan. Seit anderthalb Jahren kann die Influencerin von ihrer Selbstständigkeit leben. Den Job in der Finanzdienstleistung hat sie gekündigt. Mittlerweile übernimmt ein Management die Kooperationen, trotzdem habe Tan das letzte Wort: „Ich arbeite nur mit Marken zusammen, mit denen ich mich zu 100 Prozent identifiziere.“
Sie wolle nicht nur eine x-beliebige Zahnpasta anpreisen, sondern einen Wert schaffen. Die Werbung findet bislang nur in den Instastorys statt, die restlichen Posts gehörten ihrer Community. In ihrer Profilbeschreibung nennt sie sich das „Mama Netzwerk Nr.1“.
Weitere Influencer aus Sachsen-Anhalt
Übrigens: In Sachsen-Anhalt gibt es weitere Influencerinnen mit Kindern, wie Maria Kotter (@marrykotter) aus Halle oder Maria König (@maria.estella) aus Sandersdorf-Brehna. Den Müttern folgen jeweils mehr als 220.000 Menschen auf Instagram.
Im Kern sind es ernste Themen, die Tan anspricht: Mütter, die mit Sorgearbeit häufig allein gelassen werden und deren Abendroutine genau der Realität entspricht, die Tan humorvoll auf Instagram zeigt. In einem patriarchalen System gibt es zum Dank jede Menge Schuldgefühle und Konkurrenz unter Müttern selbst. Das spürt auch die Influencerin.
Auf Social Media ist es noch einfacher, gehässige Kommentare anonym hinauszuposaunen. „Dazu muss das Kind noch gar nicht auf der Welt sein“, meint Tan. Oft genug sind es andere Frauen, die sie unter ihren Videos kritisieren. Dabei gehe es meistens ums Aussehen oder vor allem darum, wie sie als Mutter ist. Aber auch dem begegnet Tan humorvoll und verpackt den Hass in ein neues Video. „Damit mache ich die Kritik öffentlich und kann meinen Standpunkt gleichzeitig äußern“, sagt sie.
Insgesamt halte sich negative Resonanz auf ihrem Kanal aber in Grenzen und sie sei dankbar für ihre reflektierte und freundliche Community. Mit ihren Videos bringt die Influencerin so vor allem eine Leichtigkeit in den Alltag als Mutter. Reicht es denn aus, über berechtigte Kritik am System hinwegzulachen? Tan möchte auch eine weitere, tiefgründigere Ebene in ihre Inhalte bringen.
Humor trifft Ernst: Wenn Momfluencerin gesellschaftliche Themen anspricht
In einem ihrer erfolgreichsten Videos zeigt sie metaphorisch mit Feuerzeugen, wie Mütter füreinander da sein können. „Wir Mütter müssen uns gegenseitig unterstützen – no matter what“, findet Tan. Denn von Außen sei nicht zu sehen, vor welchen Herausforderungen eine Frau steht – sei es als Alleinerziehende oder Sternenmama.
„Diese gesellschaftspolitische Ebene wird kommen“, verspricht sie. Es sei jedoch ein feiner Grat, die Community daran zu gewöhnen, die vor allem Humor, Emotionalität und Verständnis auf ihrem Profil erwartet. Deshalb will sie sich und ihre Inhalte ständig hinterfragen.
Ein Job für immer: Kontinuität, Leidenschaft und der Blick fürs Detail
Neben Authentizität ist Kontinuität entscheidend, um auf Social Media relevant zu bleiben. Auch im Urlaub hält Tan ständig die Augen offen für neue Themen und Aha-Momente. „Ich habe diesen Blick entwickelt, ich kann das gar nicht abschalten“, sagt sie. Einige mögen das sehr anstrengend finden, den Beruf ständig mit sich herumzutragen, nie richtig Feierabend zu haben. Tan bezeichnet es für sich als positiven Stress, der sie antreibt.
An schlechten Tagen, an denen sie keine Lust auf Späße hat, thematisiert sie das auch ab und zu in ihrer Story auf Instagram. „Die Leichtigkeit darf nicht verloren gehen“, meint sie. Wenn sie jeden Tag ein Video posten würde, könnte nicht jedes davon authentisch bleiben.
Ob sie sich auch in zehn Jahren noch in diesem Beruf sieht? Absolut. „Auch eine 80-jährige Frau hat Herausforderungen, über die sie sprechen möchte“, meint Tan. Nur die Themen würden sich verändern und die Followerschaft verändere sich idealerweise mit ihr mit.