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Wenn das eigene Kind plötzlich geht Kontaktabbruch von erwachsenen Kindern: Was Eltern tun können – und wann noch Hoffnung besteht

Immer mehr Eltern erleben den plötzlichen Kontaktabbruch durch ihre erwachsenen Kinder – ohne Vorwarnung. Was dahintersteckt, wie Mütter und Väter mit dem Schmerz umgehen können und wann es Chancen auf Versöhnung gibt.

Von Helene Kilb 26.05.2025, 11:12
Wenn Kinder sich abnabeln, stürzt das Eltern oft in eine Krise. 
Wenn Kinder sich abnabeln, stürzt das Eltern oft in eine Krise.  (Foto: Imago/epd)

Halle (Saale)/Saalekreis. Die Kinder sind erwachsen und wollen auf einmal nichts mehr mit ihren Eltern zu tun haben: Das ist keine Seltenheit. Die Eltern stürzt das in große Trauer, Verzweiflung, Scham und Isolierung, um den indirekten Vorwürfen des sozialen Umfelds zu entgehen. Hinter dem Kontaktabbruch können tiefe Ursachen stecken.

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Diese gilt es aufzuarbeiten, um so neuen Lebensmut zu finden. Manche Eltern schreiben ihren erwachsenen Kindern Briefe, die sie nie abschicken. Andere rufen an, auch wenn das Kind nie abnimmt.

Wenn Kinder gehen und Eltern zurückbleiben

Und wieder andere versuchen es direkt, fahren zur Wohnung, wo sich die Tür öffnet und direkt wieder schließt. „Verlassene Eltern“ nennen sich Mütter und Väter, deren erwachsene Kinder nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollen. „Es ist eine sehr schambehaftete und traurige Situation“, sagt Silvana Thomas. Sie leitet die Paritätische Selbsthilfekontaktstelle im Saalekreis und unterstützt die Selbsthilfegruppen im Saalekreis.

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Sie ist sich sicher: „Das Thema wird größer. Wie viele Eltern das betrifft, bemerken wir an der steigenden Nachfrage nach entsprechenden Selbsthilfegruppen.“ Weil es im Umfeld der Betroffenen oft noch keine entsprechende Selbsthilfegruppe gebe, kämen manchmal überregionale Anfragen, sogar eine aus Hamburg sei einmal dabei gewesen. „Die Schwere des Themas ist massiv, der Redebedarf gigantisch“, sagt Thomas.

Verlassene Eltern“: Warum Scham und Schuld oft dazugehören

Und es zieht sich durch alle gesellschaftlichen Gruppen: „In den Selbsthilfegruppen für verlassene Eltern sitzen Menschen aus allen Beziehungskonstellationen und allen sozialen Schichten: Elternpaare neben alleinstehenden und frisch getrennten Menschen, eine Friseurin neben einem Doktor.“

Die wahren Gründe für den Kontaktabbruch – laut Expertinnen

Was sie alle eint, ist der Schmerz: „Das Kind gleitet einem aus den Händen“, sagt Thomas. „Für die Eltern bedeutet das eine wahnsinnige Traurigkeit, Ohnmacht und Zerrissenheit, weil oft auch Wut mit hineinspielt.“ Von Elternseite sei der Kontaktabbruch meist nicht zu verstehen. „Sie denken sich: ,Mein Kind hatte doch eine schöne Kindheit und Jugend, und trotzdem lässt es mich jetzt hier so zurück’“, sagt Thomas. 

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Zusätzlich kämpfen Eltern mit einer erdrückenden Scham und unausgesprochenen Anschuldigungen: „Manche vertrauen sich anfangs noch Arbeitskollegen, Freunden oder Familienmitgliedern an“, sagt Thomas. „Aber je länger die Funkstille andauert, desto eher ziehen sich Betroffene aus dem Familien- und Bekanntenkreis zurück und sprechen wirklich nur noch mit ausgewählten Menschen über das Thema.“

Plötzlicher Rückzug: Gibt es Warnzeichen?

Oft stehe der Vorwurf im Raum, dass ja wohl irgendetwas passiert sein müsse, dass sich das Kind von seinen Eltern abwendet. Damit verstärkt das Umfeld Schuldgefühle, die die meisten Betroffenen ohnehin mit sich herumtragen. Mit Glück geben Kinder noch eine Erklärung ab, ehe sie verschwinden. Aber in vielen Fällen schwebt ein großes Fragezeichen über den Dingen.

„Für die Eltern bedeutet das eine wahnsinnige Traurigkeit, Ohnmacht und Zerrissenheit“, sagt Silvana Thomas, Leiterin der  Paritätischen Selbsthilfekontaktstelle im Saalekreis.
„Für die Eltern bedeutet das eine wahnsinnige Traurigkeit, Ohnmacht und Zerrissenheit“, sagt Silvana Thomas, Leiterin der  Paritätischen Selbsthilfekontaktstelle im Saalekreis.
(Foto: U. Eller)

Vorausahnen können Eltern die Funkstille kaum: „Es gibt keine Warnzeichen“, sagt Carmen Beilfuß. Sie leitet das das Institut für systemische Forschung, Therapie und Beratung (ISFT) in Magdeburg und ist als Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis tätig. „Tatsächlich steckten hinter einem Kontaktabbruch aber oft lang gehegte Gedanken.

Oft passiert dann eine Kleinigkeit, die das Fass für das erwachsene Kind zum Überlaufen bringt. Dann bricht es eher spontan, impulsiv und unüberlegt den Kontakt ab.“ Hinterher könne es gut sein, dass das Kind den Weg zurück nicht mehr recht finde oder auch denke: Kein Kontakt zu den Eltern – das fühlt sich gar nicht so schlecht an. Die Ursachen sind vielfältig: „Zum Beispiel kann es sein, dass das erwachsene Kind einen neuen Partner hat, der sich mit den Schwiegereltern in spe schlecht versteht.

Neue Generation, neue Werte: Warum Elternverständnis heute anders ist

Oder es gibt Grundkonflikte, die schon lange im Raum stehen: etwa das Gefühl, dass die Eltern einem zu viele Vorschriften gemacht oder ungefragte Ratschläge gegeben haben – egal, ob das Gefühl gerechtfertigt ist oder nicht. „In manchen Familien gibt es auch Konflikte, in denen die Eltern ihre Kinder oft tatsächlich belastet haben“, sagt Beilfuß. „Das kann zum Beispiel bei einer Trennung der Fall sein, bei der sich die Eltern nur gestritten haben und das Kind seelisch damit alleingelassen haben.“

Dazu komme, dass Kinder heutzutage weniger ans Elternhaus gebunden seien als früher: „Im Zuge der großen Möglichkeiten und der Vielfalt in der Welt sind Kinder eher interessiert daran, ihr eigenes Leben zu leben und diese Möglichkeiten auszuschöpfen“, sagt Beilfuß.

„Und heutzutage werden die Individualrechte sehr hochgehalten. Es ist gesellschaftsfähig geworden, zu sagen: Nein, ich habe jetzt keine Lust auf den Kontakt, selbst wenn es meine Eltern sind“, sagt Beilfuß. „Eltern müssen damit immer großzügiger werden und immer viel Verständnis für das erwachsen werdende Kind mitbringen“, so die Expertin.

So können Eltern wieder neuen Lebensmut finden

Um klarzukommen, rät Beilfuß vom ISFT: „Eltern sollten innerlich mit dem Kind verbunden bleiben und ihm alles Gute wünschen. Dazu sind wenige in der Lage, weil sie im Gefühl von Enttäuschung und Frustration steckenbleiben. Aber letztlich können sie die Beziehung zum Kind nicht mehr beeinflussen, sondern nur warten und sich auf das konzentrieren, was ihnen sonst Freude bereitet und ein Gefühl von Gemeinschaft gibt: Hobbys, Freundschaften, gesellschaftliches Engagement, Nachbarschaften.“

Das sei zweifellos eine schwere Aufgabe – aber eine machbare. Und sie empfiehlt Eltern, einmal im Jahr einen schlichten Geburtstagsgruß ans Kind zu schicken, als Zeichen dafür, dass es nach wie vor willkommen ist. Auch die Hoffnung darf einen Platz im Leben behalten: „Es kann gut sein, dass die erwachsenen Kinder die Situation nach einiger Zeit reflektieren und neu bewerten“, erklärt die Psychologische Psychotherapeutin.

Mit Glück können Eltern und Kinder wieder einen Schritt aufeinander zu gehen und darüber sprechen, wie sie sich ihre Beziehung zueinander in Zukunft vorstellen. Denn nicht nur für die Eltern, auch für die Kinder ist die Familie oft sehr wichtig: „Sich mit nahen Menschen auszutauschen und Unterstützung von ihnen zu erhalten – das ist lebenslang ein wertvolles Gefühl“, sagt Beilfuß.