Pflegeeltern in Oschersleben Mutter von 28 Kindern: Gabriele Kopf erzählt ihre bewegende Geschichte
Seit fast 30 Jahren kümmert sich Gabriele Kopf um Pflegekinder. Mit ihrem Mann Tino hat sie in Oschersleben in der Börde vielen ein Zuhause gegeben. Zwei von ihnen leben noch heute bei ihr – und fordern die Familie Tag für Tag heraus.

Magdeburg/Oschersleben. Am Vormittag hat Gabriele Kopf ein bisschen Luft, wie sie sagt. Da sind ihre beiden Pflegekinder in der Schule. Die Rentnerin mit den kurzen roten Haaren sitzt in ihrem Haus in Oschersleben im Landkreis Börde.
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Gabriele und ihr Mann Tino Kopf, beide 63 Jahre alt, sind Pflegeeltern. Sie ist gelernte Wirtschaftskauffrau, hat aber später im Kinderheim gearbeitet und sich mit Nebenjobs etwas dazuverdient. Tino Kopf arbeitete bis zur Pension als Kriminalbeamter.
Ihre Pflegetochter Luisa ist 16 Jahre und Valentin (Namen geändert) elf Jahre alt. Beide haben die Diagnose fetales Alkoholsyndrom. Ihre Mütter haben in der Schwangerschaft Alkohol getrunken, Luisa und Valentin leben nun mit den Folgen.
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Die Betreuung der Kinder ist daher sehr aufwändig. Hinzu kommen häufige Besuche in Arztpraxen, Ämtern und Familienkuren. Dass Gabriele Kopf Pflegemutter ist, hat eine lange Geschichte.
Ein Fulltime-Job: Warum Gabriele Kopf Pflegemutter wurde
Im Jahr 1996 entschließt sich Gabriele Kopf, Pflegemutter zu werden. Damals ist sie noch mit einem anderen Mann zusammen. Sie habe eine Werbung für Pflegeeltern gesehen und sich beworben. „Das ging mehr von mir aus“. Ihre jüngste Tochter ist zu dem Zeitpunkt zwei Jahre alt.
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Dass ihre leiblichen Kinder auf die Pflegekinder eifersüchtig gewesen wären, hat die vierfache Mutter nicht beobachtet. Heute arbeiten drei ihrer Kinder im sozialen Bereich.
„Kein Kind war gesund“ – Alltag mit 24 Pflegekindern
Insgesamt hat Gabriele Kopf in den 29 Jahren 24 Kinder betreut, zu manchen besteht noch Kontakt. Nicht alle Kinder hatten alkoholkranke Mütter, „aber kein Kind war gesund“. Sie hatten psychische Probleme und andere Krankheiten.
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Im Jahr 2000 lernt Gabriele Kopf ihren heutigen Mann Tino kennen. Damals wohnte ein Pflegekind bei ihr. Tino sei „mit eingestiegen“. Er war damals als Polizist für Jugendkriminalität zuständig. „Tino hat die Kinder anders gesehen, weil die alle einen Rucksack tragen“, erzählt sie.

Wenn Pflegekinder keine Familie finden, die sie aufnimmt, kommen sie in ein Heim. Gabriele Kopf findet, dass dort „gute Arbeit“ geleistet wird, aber es sei nicht dasselbe, „was man in einer Familie bekommt.“ Die Bindung zu den Kindern sei anders. „Deswegen machen wir das“, sagt sie. Luisa ist schon ihr ganzes Leben bei Familie Kopf.
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An einem Dienstag im Dezember 2008 bekommt Gabriele Kopf einen Anruf vom Jugendamt. Ein Säugling läge im Krankenhaus und müsse Donnerstag raus. „Das Baby ist wahrscheinlich taub, blind, kann kaum trinken, schlecht atmen und hat ein Loch im Herzen.“ Ob sie das Kind aufnehmen wolle, andernfalls käme es in eine Einrichtung.
Am Donnerstag fährt die Familie in die Frauenklinik nach Magdeburg. „Und die Zweifel haben sich erübrigt, weil ich hab’ das Kind gesehen und dann, na ja ...“ Gabriele Kopf bricht den Satz ab und lächelt, in ihren Augen liegt ein bisschen Stolz.
Luisa und Valentin: Zwei Kinder, die Familie Kopf bis heute begleiten
Und Valentin? „Das war eine Notsituation, ich kriegte den Anruf und anderthalb Stunden später war er da“. Damals war er zwei Monate alt. Bevor Luisa zu ihr kam, hatte Gabriele Kopf einige Nebenjobs. Die musste sie aufgeben, weil die Kinderbetreuung zu zeitaufwändig war. Finanziell stehe die Familie aber gut da, weil die Pension ihres Mannes grundsätzlich ausreicht.
Für die Pflegeeltern gibt es zudem Betreuungs- und Kindergeld. Für die geistig behinderte Luisa kommen Zuschüsse der Eingliederungshilfe und Pflegeleistungen der Krankenkasse hinzu. Die Kosten für Kinder mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen seien sehr hoch, sagt Gabriele Kopf. Auch deswegen komme eine Adoption für sie nicht infrage.
Fetales Alkoholsyndrom: Ursachen und Folgen für das Leben
„Meine Mutter hat nie verstanden, warum ich fremde Kinder aufnehme. Aber mein Vater hat alle Kinder so behandelt, als ob es die eigenen wären“, sagt Gabriele Kopf. Rückhalt erfährt sie im Austausch mit anderen Pflegefamilien. Ihre 31-jährige Tochter lebt noch im Haus. „Sie passt auf die Kinder auf, wenn wir eine Auszeit brauchen“. Luisa besucht eine Schule für geistig behinderte Kinder.
Ihr Intelligenzquotient liegt bei etwa 60. Valentins IQ liegt mit 110 im Normalbereich. Er geht auf die Realschule. Der Tag bei Familie Kopf beginnt um fünf Uhr morgens. Gabriele Kopf hilft Luisa, sich zu waschen, und sucht dem Mädchen Klamotten heraus. „Ich muss sie bei allem begleiten und gucken, was sie macht“, sagt Gabriele Kopf.
Einmal habe sie Luisa gesagt, sie solle selbst die Socken anziehen. Wenig später wollte das Mädchen ohne Socken in Schuhen das Haus verlassen. Nicht, weil sie ihre Pflegemutter ärgern will – sondern weil sie vergisst, dass sie Socken anziehen sollte.
„Alle tragen einen Rucksack“: Warum Familie so wichtig ist
Auch Valentin braucht Unterstützung. Den Schulweg von zwei Kilometern kann er nicht allein gehen, er sei zu abgelenkt von den Reizen. Deswegen fährt das Ehepaar ihn zur Schule und holt ihn wieder ab. Nachmittags habe Valentin Schwierigkeiten mit den Hausaufgaben, weil er erschöpft vom Schultag sei.
Das Paar beantragt deshalb einen Nachteilsausgleich für ihn. Luisa und Valentin haben beide das fetale Alkoholsyndrom (FAS). „Das ist die volle Ausprägung der fetalen Alkoholspektrumstörung (Fetal Alcohol Spectrum Disorder, kurz FASD)“, erklärt Antje Klingemann.
Sie ist Kinderärztin am Sozialpädiatrischen Zentrum in Magdeburg und spezialisiert auf Neuropädiatrie. „FASD ist der Überbegriff für alkoholbedingte Schädigungen, die sich unter anderem auf das zentrale Nervensystem auswirken“, sagt sie.
Rückhalt und Zweifel: Wie das Umfeld reagiert
Probleme im Alltag seien typisch für Menschen mit FASD, so Neuropädiaterin Antje Klingemann. „Bei der fetalen Alkoholspektrumstörung kann das Frontalhirn geschädigt sein“. Das sei für das Treffen von Entscheidungen und das Planen von Handlungen zuständig. Auch die Kontrolle von Impulsen falle oft schwer.
Die Ursache von FASD ist Alkohol in der Schwangerschaft. „Wenn Schwangere trinken, dann gelangt der Alkohol in den Kreislauf von Embryo und Fetus“, sagt Klingemann. Die Leber könne den Alkohol nur schlecht abbauen, da sie noch nicht voll entwickelt sei.
Die Folge seien unheilbare Schädigungen am Gehirn und den Organen. Aufklärung der betroffenen Familien, sowie Therapien wie Logopädie, Ergotherapie und oft auch Medikamente, können den Umgang erleichtern. Antje Klingemann hält eine frühzeitige Diagnose für wichtig. „Allein mit Pädagogik kommt man da nicht weiter.“ Hinzu komme, dass viele Kinder unter traumatischen Erlebnissen aus der Kindheit leiden.
Alltag mit FASD: Zwischen Frühaufstehen, Hausaufgaben und Arztbesuchen
„Circa zwei Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben FASD“, sagt Heike Hoff-Emden. Sie ist Kinderärztin und Psychotherapeutin und arbeitet seit 34 Jahren mit Menschen mit FASD. Alkoholkonsum bei Schwangeren komme in allen Gesellschaftsschichten vor, es gebe aber Risikofaktoren, wie Sucht im familiären Umfeld und erlebte Traumata. „90 Prozent der Kinder mit FASD leben in Wohngemeinschaften und bei Pflege- und Adoptiveltern“, sagt sie.
Im Haushalt von Gabriele Kopf wird schon lange kein Alkohol mehr getrunken. Wenn sie eine Packung Schnapspralinen geschenkt bekommt, gibt sie sie weiter. „Unser Junge hat eine feine Nase für Alkohol, den stört das“, sagt die Pflegemutter.
Kinderärztin Antje Klingemann beobachtet, dass Menschen mit FASD selbst Suchterkrankungen entwickeln können, wenn sie nicht frühzeitig ärztlich betreut werden. „Es ist wichtig, die betroffenen Kinder und deren Familien gut zu begleiten, was in einem Sozialpädiatrischen Zentrum erfolgen sollte“.
Wenn Alkohol in der Schwangerschaft das Leben bestimmt
Auch Luisas Mutter hat FASD. Das Mädchen möchte ihre leibliche Mutter nicht kennenlernen. Manchmal ist sie sauer, sagt „die ist schuld, dass ich so bin“. Gabriele Kopf erwidert dann, dass sie wütend sein darf, aber es sei nun mal jetzt so.
Das Ehepaar ist Mitglied beim Verein FASD Deutschland und besucht regelmäßig Weiterbildungen. Hin und wieder kommt das Jugendamt zu ihr nach Hause, um zu kontrollieren, wie es dort aussieht. Pflegemutter ist ein Fulltime-Job.
Was Pflegeeltern zurückbekommen – und warum Gabriele Kopf weitermacht
Was bekommt Gabriele Kopf dafür zurück? „Drücken und Kuscheln“, sagt sie. „Und das Gefühl, gebraucht zu werden.“ Luisa wird nach ihrem 18. Geburtstag bei der Familie bleiben, vielleicht zieht sie später in ein betreutes Wohnen.
Gabriele und Tino Kopf werden nach den beiden Kindern altersbedingt keine Pflegekinder mehr aufnehmen. Wie es für Valentin weitergeht, ist noch unklar.