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Bildung Bis zu 20 Tage vom Unterricht ausgeschlossen – was steckt hinter der neuen Regel in Sachsen-Anhalt?

Seit Schuljahresbeginn dürfen auffällig gewordene Schülerinnen und Schüler bis zu 20 Unterrichtstagen vom Präsenzunterricht ausgeschlossen werden – inklusive Wochenenden also etwa vier Wochen. Die Ordnungsmaßnahme ist ein Zwischenschritt vor einem endgültigen Verweis und sorgt für kontroverse Diskussionen.

Von Helene Kilb Aktualisiert: 04.11.2025, 11:56
Wohin mit Störenfrieden im Klassenzimmer? Wer muss erzogen und wer geschützt werden? Fragen, die nicht so einfach zu beantworten sind. In Sachsen-Anhalt gibt es für Ordnungsmaßnahmen und zur Prävention neue Regelungen.
Wohin mit Störenfrieden im Klassenzimmer? Wer muss erzogen und wer geschützt werden? Fragen, die nicht so einfach zu beantworten sind. In Sachsen-Anhalt gibt es für Ordnungsmaßnahmen und zur Prävention neue Regelungen. (Foto: Imago/Westenend)

Magdeburg/Halle (Saale). Bis zu 20 Tage lang dürfen Schulen in Sachsen-Anhalt seit Schuljahresbeginn auffällig gewordene Kinder vom Unterricht ausschließen – inklusive der Wochenenden also rund vier Wochen.

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Die Ordnungsmaßnahme soll als Zwischenschritt zwischen fünftägigem Ausschluss und endgültigem Verweis dienen. Schon in der Planungsphase kam Kritik, insbesondere von Eltern und von der Linken-Fraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt.

Warum Sachsen-Anhalt die Verweisdauer auf bis zu 20 Tage ausweitet

Dabei sind solche Ordnungsmaßnahmen in anderen Bundesländern längst gängige Praxis. In Schleswig-Holstein können Schülerinnen und Schüler bis zu drei Wochen vom Unterricht ausgeschlossen werden, in Thüringen, Baden-Württemberg und Bayern bis zu vier Wochen.

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In Niedersachsen sind in schwerwiegenden Fällen bis zu drei Monate möglich. Präventiv haben Schulen auch in Sachsen-Anhalt die Möglichkeit, bei konkreter „Gefahr für die physische oder psychische Unversehrtheit“, entsprechende Schülerinnen oder Schüler vorübergehend für die Dauer von bis zu drei Monaten vom Schulbesuch auszuschließen.

So steht es im Schulgesetz unter Paragraf 38. „Sachsen-Anhalt hat die Verweisdauer angepasst, weil die Schulen Bedarf angemeldet haben“, sagt Elmer Emig, Sprecher des Bildungsministeriums Sachsen-Anhalt.

Die häufigsten Fälle: Von Mobbing bis Gewalt – wenn der Unterricht leiden muss

„Das heißt sicher nicht, dass diese Maßnahme dauernd angewendet wird, sondern dass sie das Extrem der Möglichkeiten darstellt.“ Mehr Ausschlüsse als früher Zu den häufigsten Gründen, aus denen ein Kind zeitweise von der Schule verwiesen wird, gehören laut Tobias Kühne, Sprecher des Landesschulamtes Sachsen-Anhalt, Gewalttaten gegen Schüler oder Lehrpersonal, massive Konflikte, Bedrohungen und Mobbing.

Insofern kann es als Warnzeichen gelten, dass in den vergangenen Jahren immer mehr Schülerinnen und Schüler zeitweise der Schule fernbleiben mussten: Gab es im Schuljahr 2021/2022 noch 395 fünftägige Schulverweise, waren es im vergangenen Schuljahr bereits 525 Fälle bei etwa 208.000 Kindern, die in diesem Zeitraum eine Schule in Sachsen-Anhalt besuchten. Auch andere Statistiken weisen darauf hin, dass die allgemeine Stimmung an Schulen rauer wird.

So meldeten laut Polizeilicher Kriminalstatistik Schulen in allen Bundesländern 2024 mehr Gewalttaten als noch zwei Jahre zuvor – auch in Sachsen-Anhalt, wo zuletzt mehr als 900 Vorfälle angezeigt wurden.

Auswirkungen für Schülerinnen und Schüler: Lern- und Strukturverlust?

„Bei einem Unterrichtsausschluss steht der erzieherische Ansatz im Mittelpunkt“, betont Kühne vom Landesschulamt. Ihm zufolge ordnen Lehrkräfte diesen an, um Dinge und Personen zu schützen und damit die übrige Klasse den Unterricht gut fortführen kann. „Das Zusammenleben der Schulgemeinschaft ist von hoher Bedeutung.“

Seiner Einschätzung nach befürworten insbesondere Lehrerverbände die Ausweitung: „Besonders nach massiven Vorfällen wird regelmäßig mehr Zeit benötigt, um Täter und Opfer nachhaltig in den Schulalltag zu reintegrieren.“

„De facto sitzt das Kind vier Wochen allein zu Hause. Dabei lernt es überhaupt nichts“, sagt Hanna Christiansen, Psychologin 
„De facto sitzt das Kind vier Wochen allein zu Hause. Dabei lernt es überhaupt nichts“, sagt Hanna Christiansen, Psychologin 
(Foto: Tilman Fischer)

Kinder vom Unterricht fernzuhalten, um sie besser zu integrieren – für Hanna Christiansen klingt das nach einem Widerspruch. Sie leitet die Arbeitsgruppe Klinische Kinder- und Jugendlichenpsychologie am Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität Marburg und forscht zu kinder- und jugendpsychologischen Themen, unter anderem im Schulbereich.

Pädagogische Kritik: Ausschluss allein reicht nicht – das Gesamtkonzept fehlt

„Ein solcher Ausschluss müsste in ein pädagogisches Gesamtkonzept eingebettet sein“, sagt Christiansen. „De facto wird es aber eher so sein, dass das Kind bis zu vier Wochen alleine zuhause sitzt, während die Eltern arbeiten. Dabei lernt es ja überhaupt nichts.

Insofern sehe ich darin eher eine diffuse Strafe ohne pädagogischen Mehrwert.“ Sie sieht die Gefahr, dass Kindern jegliche Struktur abhanden kommt: „Wer weiß, was ein Kind dann macht? Geht es online? Isst es vor Kummer den ganzen Tag, oder schaut es Serien?“

Blick über die Landesgrenzen: Wie lange darf in anderen Bundesländern ausgesperrt werden?

In der Regel gingen Kinder gerne zur Schule – bis im Laufe der Schulzeit vielleicht Dinge passierten, die zu einem problematischen Verhalten führten. „Für mich bedeutet das, dass über einige Zeit Dinge kumuliert sind, bei denen niemand richtig hingeschaut oder darauf reagiert hat“, sagt Christiansen. „Wenn ein Kind dann in der Konsequenz aus dem Unterricht fliegt, bedeutet das, dass viel zu spät hingeschaut wurde.“

Ihrer Einschätzung nach ist es sinnvoller, nicht die Strafen für falsches Verhalten zu verschärfen, sondern dieses vorab zu verhindern. „Bei Kindern, die sich in der Schule schwierig verhalten, müssen Schulen sehr niedrigschwellig reagieren und frühzeitig den Kontakt zum Elternhaus und zum Kind suchen, um die notwendigen Hilfen zu installieren“, sagt Christiansen.

„Erwachsene müssen sich fragen, wo das Verhalten herkommt, ob das Kind über- oder unterfordert ist, ob es bestimmte Belastungen mit sich herumträgt. Und dann ist es ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es gar nicht erst zu solchen massiven Ausfällen und noch massiveren Konsequenzen kommt.“

Sie denkt dabei an Attentate in Schulen: „In der Regel sind die Täter junge Menschen gewesen, die sich ausgeschlossen gefühlt und einen Hass auf die Schule, Lehrkräfte und Mitschüler entwickelt haben.“

Fazit: Was muss passieren, damit eine Auszeit wirklich hilft – und nicht nur stört

Damit ein Unterrichtsausschluss über mehrere Wochen hinweg wirklich Wirkung zeigt, fehlt es Christiansen zufolge an den nötigen Versorgungsmodellen. „Eine Möglichkeit wären interdisziplinäre Behandlungszentren, um Probleme intensiv aufzugreifen“, sagt Christiansen.

Ihr Vorschlag: „Hilfreich wäre eine Art Mapping, bei dem man schaut, welche Ursachen in der Vergangenheit zum Unterrichtsauschluss geführt haben und ob diese sich in verschiedene Kategorien einordnen lassen.

Danach müssten Lehrer, Eltern und Schüler in einen gemeinsamen Prozess treten und ein Konzept für angemessenes Verhalten und Konsequenzen bei problematischem Verhalten entwerfen. Ich glaube, hier müssen Schulen viel öfter partizipative Wege gehen, damit Maßnahmen von allen Beteiligten getragen und akzeptiert werden.“