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Stillen ohne Druck „Niemand muss stillen – aber alle sollten dürfen“: Warum eine Stillberaterin jetzt auch Väter in die Pflicht nimmt

Warum Stillen in Deutschland oft an Aufklärung, Rollenbildern und fehlender Unterstützung scheitert – und was Eltern wirklich brauchen. Stillberaterin und Autorin Ramona Noll, die schon mehr als 1.000 Familien begleitet hat, spricht im Interview über gesellschaftliche Hürden, versteckte Ungleichheit und darüber, was sich dringend ändern muss.

Von Lena Högemann 03.12.2025, 12:31
Die Autorin Ramona Noll hat als Stillberaterin und systemische Familientherapeutin über 1.000 Familien begleitet. Ihr Ziel dabei ist es, dass Eltern einen selbstbestimmten Weg durch die Stillzeit zu finden. Noll ist Mutter von vier Kindern und hat selbst insgesamt über 85 Monate gestillt. Sie wohnt mit ihrer Familie in Lahnstein.
Die Autorin Ramona Noll hat als Stillberaterin und systemische Familientherapeutin über 1.000 Familien begleitet. Ihr Ziel dabei ist es, dass Eltern einen selbstbestimmten Weg durch die Stillzeit zu finden. Noll ist Mutter von vier Kindern und hat selbst insgesamt über 85 Monate gestillt. Sie wohnt mit ihrer Familie in Lahnstein. (Foto: Angelina Martha)

Halle (Saale)/Magdeburg. Stillberaterin und Autorin Ramona Noll hat mehr als 1.000 Familien beim Stillen geholfen. In Ihrem Buch „Obenrum frei“ will sie mit Still-Mythen aufräumen. Im Interview mit Lena Högemann spricht sie über Stillen, gesellschaftliche Hürden und was sich in Deutschland ändern sollte.

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Frau Noll, Ihr Buch trägt den Titel „Obenrum frei“. Was steckt für Sie persönlich in diesem Titel?

Ramona Noll: Niemand muss stillen. Ich möchte nur, dass die, die stillen wollen, auch können und dürfen. Das drückt für mich „obenrum frei“ aus: Ich bin informiert über meine Körperfunktionen, über medizinische Vorteile für beide Seiten, weiß um den Struggle, der entstehen kann. Wenn ich aufgeklärt bin, kann ich im doppelten Sinne obenrum frei entscheiden. Und da geht es für mich politisch auch schon los.

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Inwiefern?

Ramona Noll: Es gibt zu wenig Aufklärung über unsere Körper im Allgemeinen und über die Brust im Speziellen. Stillen hat keine Lobby, weil man damit weniger Geld verdienen kann. 2024 wurden in Deutschland circa 1,21 Milliarden Euro Umsatz mit Babynahrung gemacht. Wenn jetzt eher 70 bis 80 Prozent ihr Baby bis zum 6. Monat voll stillen würden, anstatt wie bisher nur 40 Prozent, wäre das mit Sicherheit ein Ding in der Branche.

In der Öffentlichkeit werden Stillende immer noch des Platzes verwiesen oder gebeten, sich zu bedecken. Arbeitsrechtlich gibt es nur Regelungen bis zum ersten Geburtstag des Kindes, danach leider nicht mehr.

Ramona Noll: „Obenrum frei - Stillen, wie es zu dir und deinem Baby passt“ Sept. 2025, Beltz-Verlag
Ramona Noll: „Obenrum frei - Stillen, wie es zu dir und deinem Baby passt“ Sept. 2025, Beltz-Verlag
(Foto: Beltz-Verlag)

Wenn man einen Blick auf das Inhaltsverzeichnis Ihres Buches wirft, könnte man meinen, dass Stillen wirklich schwierig ist und es viel Vorbereitung, Arbeit und Mühe kostet. Ist das so?

Ramona Noll: Jein. Einerseits kann man für die Brust nicht viel vorbereiten, außer sich gut um seinen Körper kümmern. Andererseits empfehle ich jeder schwangeren Person, sich mit dem Stillen zu beschäftigen. Je mehr ich weiß, desto weniger bin ich anfällig für Halbweisheiten und Mythen. Ich weiß, wo ich Hilfe bekomme, was es für Hilfsmittel gibt usw.

Stillen an sich kann wunderschön sein, ist aber wie ein Sport: Am Anfang bedarf es viel Übung und Training. Und natürlich ist es auch körperlich anstrengend und kann zehren. Die Empfindung ist aber sehr individuell.

In Ihrer Arbeit als Stillberaterin, was erleben Sie da: Sind Paare heute gut informiert oder fehlt da etwas beim Wissen der werdenden und jungen Eltern?

Ramona Noll: Wir leben nur noch selten in der Großfamilie, haben wenig Still-Vorbilder, um am Modell zu lernen. Gleichzeitig gehen unsere Intuition und unser Körpergefühl flöten, wir wollen alles planen und tracken. Viele junge Eltern sind über die Schwangerschaft und Geburt aufgeklärt, aber dann hört es auf.

Mir ist wichtig, dass alle wissen: Stillen ist zwar natürlich, aber wird sozial erlernt. Es läuft nicht instinktiv problemfrei wie bei den Tieren. Und dann gibt es einfach so viele Wege zum Stillen, wie es Babys und Brüste gibt.

Sie erleben, dass Frauen erst ihren Mann fragen müssen, ob sie Sie als Stillberaterin – eine Leistung, die die Kassen oft nicht übernehmen – leisten können, obwohl die Frau etwa mit blutigen Brustwarzen dasitzt und Hilfe braucht. Was erleben Sie in Ihrer Arbeit in Bezug auf die Rollenbilder in Familien?

Ramona Noll: Ja das stimmt. Die verzweifelte Frau mit Schmerzen aus der Hölle, muss erst ihren Mann um Erlaubnis fragen. Das kommt nicht selten vor. Es gibt Familien, die sich gut aufteilen, organisieren, und wo der Mann erkannt hat, das er auch, wenn er nicht stillt, er sehr viele andere Aufgaben übernehmen und seine Partnerin entlasten kann.

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Gleichzeitig gibt es aber auch immer noch sehr viele klassische Modelle: Der Mann hat kurz Urlaub nach der Geburt, geht wieder arbeiten, und die Frau wuppt alles alleine. Inklusive Stillen. Wenn wir von acht bis zwölf Stillsessions in 24 Stunden ausgehen, die auch locker mal 25 bis 45 Minuten dauern können, sehen wir schnell: Da bleibt nicht viel übrig vom Tag. Erwartet wird aber ein sauberes Heim und eine fröhliche Frau.

Kritiker behaupten, Stillen führe automatisch zu einer ungleichen Lastenverteilung. Das könne dadurch gelöst werden, dass das Kind die Flasche bekommt. So könne der Vater mit der Flasche automatisch mehr Verantwortung übernehmen. Sie widersprechen. Warum?

Ramona Noll: Die Ernährungsform eines Kindes kann nicht dafür verantwortlich sein, wie ich meine Partnerschaft und das Elternsein gestalte. Nach vier Monaten stillen in Deutschland nur noch 40 Prozent der Frauen voll. Sechs Monate voll zu stillen, sind empfohlen. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass die ganzen Stay-at-home-Daddys ihre Kinder mit der Flasche füttern, während die Mutter Karriere macht.

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Der Blick ist immer noch schief: Wenn der Vater nach der Geburt wieder arbeiten geht, sagen die Leute: Na klar, er muss sich um seine Karriere kümmern. Geht die Mutter nach der Geburt wieder arbeiten, ist sie eine Rabenmutter. Nimmt er das Kind mit zur Arbeit, ist das süß. Sie hingegen wirkt unprofessionell und unorganisiert, wenn sie das gleiche tut. Wir sollten über diese Themen sprechen, nicht dem Stillen die Schuld an Ungerechtigkeiten geben.

Wie kann denn eine gleichberechtigte Partnerschaft beim Stillen gelingen?

Ramona Noll: Kommunikation. Wir müssen darüber sprechen, was wir leisten, was zu tun ist, was wir übernehmen können, was nicht, was wir gerne abgeben würden, was wir brauchen, um einen Ausgleich zu finden. Ein wichtiger Schritt ist, erst einmal sehen und anerkennen, was eine stillende Person leistet. Und wie viel Zeit sie neben dem Stillen zur Verfügung hat.

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Stellen Sie sich vor, dass Stillen zu 100 Prozent gesellschaftlich anerkannt wäre: Wie sähe diese stillfreundliche Welt aus? Was müsste sich konkret ändern, wenn Sie an heute denken?

Ramona Noll: Spätestens in der Grundschule würde im Sachunterricht über das Stillen gesprochen werden. Nahezu alle Mütter stillen, wodurch die Menschen daran gewöhnt wären. Stillberatung würde von der Krankenkasse übernommen, wenn es überhaupt gebraucht wird, da die Begleitung der Mutter ab der Geburt selbstverständlich und auf höchstem Standard laufen würde. Es gäbe weniger Brustkrebs, Zivilisationskrankheiten gingen deutlich zurück, alle Menschen lebten gesünder.

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Dazu müsste sich politisch einiges ändern: Bessere Bildungsarbeit, strengerer Kodex was Ersatznahrung angeht, qualifizierteres Personal und bessere Versorgung und Begleitung Stillender. Welche Rahmenbedingungen bräuchten Mütter in Deutschland, um Stillen und Arbeiten besser vereinbaren zu können – und was müssten Arbeitgeber und Kollegen darüber wissen?

Ramona Noll: Bis zum ersten Geburtstag haben Stillende ein Anrecht auf bezahlte Pausen zum Stillen oder Pumpen. Das bringt viele in die Bredouille, da meistens der erste Geburtstag auch der erste Arbeitstag ist, das Abstillen aber nicht auf Knopfdruck geht oder auch noch gar nicht gewünscht ist. Diese Regelungen müssen also ausgeweitet und vor allem auch bekannt gemacht werden.

Was können Männer tun, um ihre Partnerin beim Stillen wirklich zu unterstützen – jenseits von Windeln wechseln und Spülmaschine ausräumen?

Ramona Noll: Sehen, anerkennen und wertschätzen, was sie leistet. „Mothering the mother“ bedeutet, dass auch die gerade gewordene Mutter eine Umsorgung braucht. Gutes Essen, immer was zu trinken, denn Stillen macht durstig, eine Berührung, Umarmung, Massage, und so doof es klingt: aufrichtige Worte. Ein „Du machst das großartig! Du ernährst unser Kind! Ich bin stolz auf Dich!“ lässt nicht nur das Herz höherschlagen, sondern auch die Milch fließen.