Volksstimme-Gespräch mit Prof. Dr. Michael Sailer zu Ursachen und Therapien der Erkrankung Multiple Sklerose - Entzündung im Gehirn
Heute ist Welttag für Patienten mit Multipler Sklerose. Der Magdeburger Neurologe Professor Dr. Michael Sailer klärt im Volksstimme-Gespräch auf, was es mit dieser Erkrankung auf sich hat.
Volksstimme: Woran erkennt man eine Erkrankung an Multipler Sklerose?
Prof. Dr. Michael Sailer: Die Multiple Sklerose ist eine entzündliche Erkrankung des Nervensystems, die sich in unterschiedlichen Verläufen klinisch bemerkbar macht. In den meisten Fällen beginnt diese Erkrankung im frühen Erwachsenenalter zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Die Entzündung befällt das Gehirn und das Rückenmark. Beide bilden das Zentrale Nervensystem (ZNS). Das ZNS ist die Schaltzentrale, in der Signale über das Rückenmark zum Körper gesendet werden und Informationen über die Nervenbahnen empfangen und bearbeitet werden. Diese Nervenbahnen sind in einer ähnlichen Weise aufgebaut wie ein elektrisches Kabel, das heißt, sie verfügen neben dem "Draht" über eine Isolierschicht, die die Informationsgeschwindigkeit und Sicherheit der Übertragung gewährleistet. Diese Isolierschicht wird Myelin genannt und ist eine der Hauptangriffspunkte der Entzündung bei der Multiplen Sklerose. Die Entzündungsherde können diese Myelinschicht zerstören und in letzter Konsequenz auch zu einer Zerstörung der Nervenfaser, also des gesamten Kabels, führen.
Volksstimme: Verläuft die Erkrankung bei Patienten gleich?
Prof. Dr. Sailer: Da die Entzündungsherde in unterschiedlichen Bereichen des Gehirnes auftreten können, erfahren die Patienten ganz unterschiedliche Beschwerden. Das heißt, es können neurologische Symptome auftreten, wie beispielsweise eine Sehstörung, wenn der Sehnerv betroffen ist, Lähmungen, wenn Bahnen für die Bewegung betroffen sind sowie Gefühlsstörung, Blasenstörung, Koordinationsstörung usw.
Volksstimme: Was ist derzeit über die Ursache bekannt? Ist die Erkrankung vererbbar oder ansteckend?
Prof. Dr. Sailer: Obwohl der genaue Auslösemechanismus dieser Erkrankung noch nicht geklärt ist, spielt das Abwehrsystem des Körpers, das Immunsystem, eine zentrale Rolle bei der Entstehung. Das Immunsystem schützt vor Krankheitserregern, indem es diese unschädlich macht, wenn sie in den Körper eindringen. Eine herausragende Fähigkeit unseres Abwehrsystems ist, dass normalerweise die eigenen Körperstrukturen nicht angegriffen werden. Diese Programmierung ist bei Patienten mit MS gestört, wobei Teile der schützenden Myelinschicht als fremde Eindringlinge betrachtet und zerstört werden. An dieser Störung sind eine Reihe von Faktoren beteiligt, die von Umwelteinflüssen, wie zum Beispiel Infektionen im Kindesalter bis zu einer vererbbaren Neigung reichen. Fest steht, dass die MS nicht übertragbar und dass sie keine direkt vererbbare Erkrankung ist.
"Die Beschwerden sind ganz unterschiedlich."
Volksstimme: Lässt sich der Verlauf der Erkrankung prognostizieren?
Prof. Dr. Sailer: Die Diagnose der MS kann sich gelegentlich über mehrere Jahre erstrecken, da die ersten Symptome nur vorübergehend und in manchen Fällen auch sehr unspezifisch wie zum Beispiel ein Kribbeln in der Hand oder eine kurzfristige Ungeschicklichkeit des Armes oder des Beines auftreten können. Der Verlauf der Erkrankung kann nicht vorhergesagt werden, es ist jedoch bekannt, dass die MS bei einer Vielzahl von Erkrankten gutartig verläuft.
Volksstimme: Wann ist das der Fall?
Prof. Dr. Sailer: Gerade am Anfang der Erkrankung bilden sich die auftretenden Krankheitszeichen in der Regel fast vollständig wieder zurück. In dieser Zeit besitzt das Gehirn eine enorme Kapazität, um Störungen, die durch eine unvollständige Rückbildung bedingt sind, funktionell zu kompensieren, so dass klinisch nur eine relativ gering ausgeprägte Beeinträchtigung verbleiben kann. Diese Fähigkeit des Gehirns nimmt mit der Zeit der Erkrankung ab. Nur in wenigen Fällen, zirka fünf Prozent, führt die Krankheit innerhalb weniger Jahre zur schweren Behinderung.
Volksstimme: Wenn man von der Krankheit betroffen ist, welchen Verlauf nimmt sie?
Prof. Dr. Sailer: In den ersten Jahren entwickelt sich in den meisten Fällen mit einer Häufigkeit bis zu 90 Prozent ein schubförmiger Verlauf. Etwa zehn bis 15 Prozent der Patienten nehmen einen sogenannten primär-chronisch progredienten Verlauf an, das heißt, dass eine kontinuierliche Zunahme der körperlichen Störungen ohne Schübe vorliegt. Nach zehn bis 15 Jahren gehen zirka 30 bis 40 Prozent der Patienten mit anfänglichem schubförmigen Verlauf in einen sekundär-chronisch progredienten Verlauf über.
Volksstimme: Gibt es Fortschritte bei der Therapie der MS?
Prof. Dr. Sailer: Die Therapie der Multiplen Sklerose spielt heute im Gegensatz vor 15 oder 20 Jahren eine bedeutende und zentrale Rolle. Unterschieden werden kann die Therapie des akuten Schubes, eine langfristige immunprophylaktische Therapie sowie eine Therapie der Symptome und eine Funktionsverbesserung durch Rehabilitationsverfahren. Alle Optionen werden in der Regel in Kombination miteinander angewendet und individuell auf den einzelnen Patienten zugeschnitten.
Volksstimme: Wovon konkret ist die genaue Therapie abhängig?
Prof. Dr. Sailer: Diese hängt vom Krankheitsstadium, Ausprägung der Erkrankung und individueller Situationen ab. Berücksichtigt werden müssen auch das Alter, Geschlecht und andere Erkrankungen des Patienten sowie Besonderheiten der Lebenssituation, wie beispielsweise ein Kinderwunsch. Im Vordergrund steht jedoch, dass eine frühzeitige Therapie der Multiplen Sklerose den Verlauf entscheidend verändern kann, sodass eine frühe Diagnose, Aufklärung und Entscheidung zur Therapie in einer klaren Vorgehensweise durch Ärzte, die mit Multipler Sklerose vertraut sind, notwendig ist.
Volksstimme: Wird Cannabis in der Therapie noch angewendet?
Prof. Dr. Sailer: Cannabis als "Rohstoff" wird in der Therapie nicht angewandt. Im vergangenen Jahr ist jedoch ein Medikament für die Behandlung einer ausgeprägten und sonst nicht zu behandelnden Spastik zugelassen worden, das eine chemisch aufbereitete Substanz beinhaltet, die dem Canabis ähnlich ist.
"Körperliche Belastung ist individuell."
Volksstimme: Was können MS-Patienten tun, um ihre kognitiven und physischen Fähigkeiten zu erhalten?
Prof. Dr. Sailer: Eine regelmäßige angepasste körperliche Aktivität ist sehr wichtig. Die Belastung ist individuell unterschiedlich und kann von spezieller Physiotherapie bis zu Ausdauerleistungen im Breitensport reichen. Wissenschaftlich konnte nachgewiesen werden, dass Verbesserungen durch intensive, drei oder vierwöchige Rehabilitation bis hin zu neun Monaten einen positiven Effekt aufweisen.
Volksstimme: Dürfen die MS-Patienten sich körperlich belasten?
Prof. Dr. Sailer: Ja, das muss individuell abgestimmt sein.
Volksstimme: Wie sind die im Internet kursierenden Diätempfehlungen für Patienten zu bewerten?
Prof. Dr. Sailer: Es gibt keine kausale Diät, die die MS verbessert oder ihren Verlauf verändert. Einseitige Diäten können sogar zur Mangelernährung führen und gefährliche Zustände hervorrufen. Eine ausgewogene Kost nach allgemeinen Prinzipien ist die beste Form der Ernährung auch für MS-Patienten.