Fall 1: Leistungen für ALG-II-Bezieher Wird Schmerzensgeld bei der Bedürftigkeit angerechnet?
Es geschah bei einem Disco-Besuch. Die Hand eines Jugendlichen landete im rechten Auge von Ulrike Paul. Trotz sofortiger ärztlicher Hilfe wurde die junge Frau aus dem Jerichower Land auf diesem Auge beinahe blind. Der Verursacher dieses schweren körperlichen Schadens wurde verurteilt und der Geschädigten ein Schmerzensgeld gewährt.
Doch kaum war der Betrag auf dem Konto, stellte die Hartz-IV-Behörde fest, dass Ulrike Paul nun ja nicht mehr hilfebedürftig im Sinne des SGB II sei. Sie verfüge jetzt über Vermögen, so dass sie keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes mehr brauche. "Sie haben Vermögen erzielt, dass zum Wegfall Ihres Anspruchs geführt hat", teilte man ihr im März 2008 mit. "Ich bekam seither keine Zuschüsse, bezahlte alle laufenden Kosten der Wohnung und den weiteren Lebensunterhalt von meinem Schmerzensgeld, finanzierte davon meine Fahrerlaubnis und kaufte mir einen älteren, angemessenen Kleinwagen - also Investitionen in die Zukunft", schrieb sie uns. Viel lieber aber hätte sie mit dem Schmerzensgeld auch noch für ihre berufliche Zukunft, die dazu gehörigen Lernmaterialien und weitere wichtige Dinge gesorgt, denn "als sehgeschädigter Mensch ist die Berufswahl nicht sehr groß".
Derzeit absolviert sie eine Ausbildung zur Physiotherapeutin und bekommt währenddessen Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz. Dennoch steht für die 24-Jährige nach wie vor die Frage, ob die Entscheidung der Arge wirklich richtig war, das Schmerzensgeld beim ALG-II-Anspruch zu berücksichtigen. Erst kürzlich wurde ihr bei einer persönlichen Vorsprache im Jobcenter erneut gesagt, dass Schmerzenzgeld als Vermögen anzurechnen sei. "Nach meinen Recherchen entspricht dies nicht den gesetzlichen Bestimmungen", meint jedoch Ulrike Paul.
Auch nach unseren Recherchen ist für Schmerzensgeld vom Gesetzgeber eine besondere Privilegierung vorgesehen. Das Bundessozialgericht hatte im Jahre 2007 entschieden, dass Vermögen aus einer Schmerzensgeldzahlung nicht auf das ALG II anzurechnen sei, da diese Verwertung eine besondere Härte darstellen würde.
Dieses Urteil war bereits gefallen, allerdings noch nicht veröffentlicht, als die junge Frau aus dem Jerichower Land Schmerzensgeld bekam. Statt es als Ausgleich für verlorenes Augenlicht nutzen zu können, musste sie auf eine Entscheidung der zuständigen SGB-II-Behörde hin aber mehr als zwei Jahre davon leben. Eine falsche Entscheidung?
Nicht bis zur Veröffentlichung des Urteiles vom Bundessozialgericht im April 2008 (B 14/b AS 6/07 R), stellte das Jobcenter Jerichower Land klar. Denn nach der bis dahin herrschenden Weisungslage waren Zahlungen in Form von Schmerzensgeld zwar nicht als Einkommen, jedoch als Vermögen zu berücksichtigen. Wurden die Vermögensfreibeträge überschritten, lag keine Hilfebedürftigkeit im Sinne des Sozialgesetzbuch - Zweites Buch - (SGB II) vor.
Bei Antragstellungen nach der Veröffentlichung des Urteils aber hätte diese Rechtsprechung berücksichtigt werden müssen, räumte die SGB-II-Behörde nun ein. Eine Überprüfung solcher Anträge sei gemäß den gesetzlichen Vorgaben rückwirkend jetzt aber höchstens bis zum 1. Januar 2010 möglich. Mit der jungen Leserin werde er sich in Verbindung setzen, "um eine Überprüfung zu ihren Gunsten und zum frühestmöglichen Zeitpunkt vorzunehmen", versicherte uns Jobcenter-Geschäftsführer Torsten Narr.
Die sehbehinderte junge Frau wird also keinesfalls für den ganzen Zeitraum, in dem sie nach der früheren Auffassung der SGB-II-Behörde ihr Schmerzensgeld für den laufenden Lebensunterhalt verwenden musste, mit einer Erstattung rechnen können. Ulrike Paul sieht aber dennoch optimistisch der vom Geschäftsführer gegenüber unserer Redaktion angekündigten Überprüfung des Leistungsanspruchs zu ihren Gunsten entgegen.