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Vogelsang Frauen fühlen Schmerzen intensiver

An der Klinik für Schmerztherapie in Vogelsang werden deutlich mehr Frauen als Männer wegen ihrer chronischen Schmerzen behandelt.

07.03.2021, 00:00

Vogelsang l Jeder Mensch nimmt Schmerz anders wahr, und das auch ganz unterschiedlich, ob der Schmerz in einer fröhlichen oder angespannten Situation auftritt. Schmerz sei immer ein Symptom, hinter dem eine Botschaft stecke, sagte Dr. Angela Stephan, Chefärztin der Klinik für Schmerztherapie an der Helios Fachklinik Vogelsang.
Frauen bilden etwa zwei Drittel der Patienten, die gegen ihre chronischen Schmerzen behandelt werden. Dabei kann es nicht darum gehen, wieder komplett schmerzfrei zu werden, sondern zu lernen, mit dem Schmerz auszukommen.
Frauen fühlen Schmerzen intensiver. Das weiß das Team um Angela Stephan aus der Praxis und das belegen Studien. So sind die Unterschiede beispielsweise bei schmerzhaften Druckreizen besonders ausgeprägt. Das neuronale System der Frauen neigt eher zu einer Chronifizierung von Schmerzen.
Insgesamt steht die Forschung noch am Anfang. Vermutlich handelt es sich um einem Mix verschiedener Faktoren wie Genetik, Hormone und Erziehung. Bei Männern spielt unter anderem ihre Sozialisation eine Rolle: „Männer kennen keinen Schmerz“. In neueren Studien vermindern sich die Geschlechterunterschiede jedoch, was auf ein modernes Rollenverständnis schließen lässt.
Auf der einen Seite schieben die Frauen ihren Schmerz beiseite, weil sie die (gesellschaftliche) Erwartung dazu bringe, sich um Familie und Freunde zu kümmern. Auf der anderen Seite sei es aber gerade das Verantwortungsgefühl, auch in nächster Zeit noch für Kinder, Enkelkinder und den Ehemann da sein zu wollen, der Auslöser, sich gegen die Schmerzen behandeln zu lassen, erklärte Denis Krappe, Psychologischer Psychotherapeut im Team von Angela Stephan. Männer wollten auch für ihre Familien da sein, ihnen falle der Schritt, sich gegen Schmerzen behandeln zu lassen, jedoch schwerer. „Ich löse meine Probleme allein“, sei eine typische Männereinstellung.
Nicht erklären lasse sich im Moment beispielsweise, weshalb sich Frauen viel stärker mit Rückenschmerzen meldeten. Das könnte, formulierte Denis Krappe eine Vermutung, mit dem Anspruch auf Schmerzfreiheit zusammenhängen, den die Gesellschaft seit einiger Zeit suggeriere.
Denn: Gibt es nicht gegen alles ein Medikament oder eine Therapie? Gerade bei Medikamenten müsse auf weibliche Patienten mehr Rücksicht genommen werden. „Der Stoffwechsel bei Frauen funktioniert anders. Sie resorbieren Medikamente langsamer“, erklärte Dr. Stephan.
Frauen und Medizin ist überhaupt ein Thema, dem noch viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Männerkörper standen lange Zeit im Mittelpunkt des Medizinstudiums. Medikamente werden bis heute vornehmlich an Männern getestet. Frauen zeigen andere Symptome, bekanntes Beispiel ist der Herzinfarkt, der bei Frauen deshalb viel schwieriger erkannt wird.
In der Klinik für Schmerztherapie mit stationärer Behandlung und ebenso in der Tagesklinik liegt in Vogelsang der psychotherapeutische Anteil bei über der Hälfte. Entsprechend sind die Teams zusammengestellt, und sprechen Ärzte und Psychotherapeuten eine Sprache, wie Medizinerin Angela Stephan betonte.
Dass wir Schmerzen haben, sei körperlich, erklärte Denis Krappe. Wie wir den Schmerz wahrnehmen, sei jedoch psychisch. „Wenn ich weiß, warum ich etwas erlebe, habe ich viel mehr Kontrolle darüber.“ Hinzukomme, dass der psychosoziale Rucksack bei Frauen oft schwerer wiege, ergänzte Angela Stephan. Das könne an ihrer Stellung in der Gesellschaft liegen, weil sie sexuellen Missbrauch erfahren haben oder auf andere Weise zum Opfer geworden sind.
An der Klinik laufen die Patienten ein umfangreiches Assessment durch. Etwa die Hälfte der Patienten erfüllt die Kriterien für eine Aufnahme. Ein wichtiger Punkt dabei ist die Motivation zur Lebensveränderung. Bin ich bereit, aufzustehen und meine Übungen zu machen, obwohl die Angst vor dem Schmerz groß ist?
Die andere Hälfte der Patienten, die sich für die Schmerztherapie nicht eignet, ist noch nicht austherapiert oder benötigt erst eine Behandlung der Psyche.
Das Behandlungsziel legen die Patienten in Vogelsang selbst fest. Schon das ist ein großes Umdenken für viele Betroffene: eine Entscheidung selbst treffen und nicht vom Schmerz diktieren lassen. Trotz Schmerz ein erfülltes Leben zu führen, können die Patienten erreichen. Schmerzfreiheit dagegen nicht.
„Der Patient sollte im besten Fall zum Profi für sein eigenes Krankheitsbild werden“, sagte Denis Krappe. Das bessere Verständnis für die eigene Krankheit helfe dabei, mehr auf sich selbst zu achten.
„Mit der stationären Therapie ist die Arbeit aber noch nicht zu Ende. Der Patient muss immer weiter an sich arbeiten“, sagte Angela Stephan.