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Republikflucht Als Gerwisch keine Zukunft bot

Von 1949 bis zum Mauerbau 1961 verließen mehr als 50 Einwohner das Dorf Gerwisch in Richtung Westen.

09.12.2020, 04:00

Gerwisch l Eigentlich waren Dietrichs* ein Vorzeigepaar für die DDR. Sie siedelten 1957 aus dem Westen nach Magdeburg über. Manfred Dietrich arbeitete erst in seinem erlernten Beruf als Elektriker, dann als Gaststättenleiter. Die Branche war ihm nicht unbekannt. Seine Eltern hatten eine Kantine verwaltet. Im Mai 1960 wurde Manfred Dietrich und seiner Frau Gisela die Leitung der Konsum-Gaststätte in Gerwisch übertragen. Dietrichs brachten mehr Abwechslung in die Speisekarte, der Umsatz stimmte, die Genossenschaft war zufrieden.

Der Betrieb der großen Gaststätte mit Saal und Fremdenzimmern war fordernd, wie ein Blick in den Veranstaltungsplan des ersten Quartals 1961 zeigte. Zur Jahreshauptversammlung der LPG am 21. Januar wurde bis 6 Uhr früh getanzt, eine Woche später feierte der Pferdezuchtverein Körbelitz bis 5 Uhr früh, und nach der Jahreshauptversammlung der Feuerwehr gingen die Leute kaum früher zu Bett. Bei Tanzveranstaltungen konnte die Gaststätte selten vor 4 Uhr morgens abgeschlossen werden.

Hinzukommt, so lassen es die vorhandenen Unterlagen vermuten, dass ein Arbeitsplatz mit unkompliziertem Zugang zu Alkohol für Gisela Dietrich denkbar ungünstig war. Das Ehepaar stritt auch vor der sechsköpfigen Belegschaft und Gaststättenbesuchern miteinander.

Im Frühjahr 1961 musste sich das Ehepaar vor Gericht verantworten. Manfred Dietrich wurde vorgeworfen, Weinbrandverschnitt als Weinbrandspezial verkauft zu haben. Er räumte den Betrug während der Verhandlung ein. Andere betrogen auch, begründete er sein Verhalten und verwies auf falsche Abrechnungen beim Kaffee oder dem Mitnehmen von Lebensmitteln aus der Küche. Die 120 Mark Plus habe er genutzt, das Manko in der Kasse auszugleichen. Wegen der erheblichen Differenzen bei den Inventuren war die Gaststätte der Konsumgenossenschaft aufgefallen. Gisela Dietrich soll für private Einkäufe des Öfteren Geld aus der Kasse genommen, aber nicht jedes Mal zurückgelegt haben. Sie wurde zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe verurteilt, ihr Mann zu einem Monat Haft, der zu einem Jahr auf Bewährung ausgesetzt wurde. Das Urteil wurde schon zwei Wochen später vom Bezirksgericht aufgehoben. Die Forderung aus Magdeburg war deutlich: Da Gisela Dietrich mehrfach gegen die Pflichten einer stellvertretenden Gaststättenleiterin einer sozialistischen Genossenschaft verstoßen habe, müsse im Urteil mehr als eine kurzfristige Freiheitsstrafe stehen.

Willkür und übergroße Härte spielten in Gerichtsurteilen vor dem Mauerbau eine entscheidende Rolle. Jedes Strafurteil hatte in den Worten Walter Ulbrichts auch als „politische Tat“ zu gelten. Erst nach August 1961 scheint die „Angst des Staates vor seinen Bürgern“ deutlich abgeklungen zu sein, wie Inga Markovits in ihrem Buch „Gerechtigkeit in Lüritz“ schrieb.

Im Fall Dietrich reagierte die Konsumgenossenschaft Biederitz sofort. Parallel zum Urteilsspruch erhielt Manfred Dietrich seine fristlose Kündigung wegen vorsätzlichen Betruges und Verstoßes gegen die Preisordnung. Auch die Dienstwohnung hatte die vierköpfige Familie innerhalb von zwei Wochen zu verlassen. Dietrichs setzten sich daraufhin in den Westen ab. Drei Wochen später wäre die Grenze dicht gewesen.

Weit mehr als 50 Frauen, Männer und ganze Familien sind für Gerwisch als republikflüchtig registriert. Sie verließen zwischen 1949 und Juli 1961 das Dorf in Richtung Westen.

Besonders tragisch ist der Fall der zweieinhalbjährigen Yvonne. Ihre Eltern gingen mit den Geschwistern weg. Dass sie ihre Tochter zurückließen, muss jedoch nicht unbedingt geplant gewesen sein. Die Gemeindeangestellten fanden in der Wohnung der Familie keinerlei Sachen für das Mädchen. Deshalb erhielt Yvonne Kleidung, die Familie Dietrich von ihren Kindern nicht mitgenommen hatte. Yvonnes Pflegemutter, die in Gommern lebte, bedankte sich „herzlich für die zugesandten Sachen. Yvonne ist gesund, ihr geht es gut, erwähnt ihre Eltern gar nicht“, schrieb sie an den Rat der Gemeinde. Dort kümmerte man sich auch, dass die Pflegemutter Yvonnes Kinderkarte des VEB Ogema erhielt. Gegenüber der Volksstimme erklärte sie, dass die Eltern in Mecklenburg Verwandte hatten besuchen wollen und sie in der Zwischenzeit auf die Zweieinhalbjährige aufpassen sollte.

Vor dem Mauerbau verließen jährlich etwa 300 000 Menschen die DDR. Anfangs sei der Trend unter anderem durch Enteignungen im Zuge der Bodenreform oder der Entlassung von 80 Prozent der Richter und Staatsanwälte von den Kommunisten mit verursacht worden, erklärte Damian van Melis in seinem Buch „Republikflucht“. Statistisch betrachtet habe zudem jede Person, die die Sowjetische Besatzungszone verließ, eine Entspannung der Versorgungslage bedeutet.

Lehrer, Bauern, Facharbeiter und Angehörige der Intelligenz wurden 1952 als die „besonders fluchtanfälligen Berufsgruppen“ genannt. Mit der am 26. Mai 1952 verkündeten offiziellen Verordnung zur Grenzschließung wurde die Durchlässigkeit der Grenze von der Ostsee bis zur Tschechoslowakei stark eingeschränkt, aber über Berlin blieb die illegale Auswanderung weiter möglich.

Wurde die Republikflucht bekannt, wurde das zurückgelassene Vermögen auf Basis der Verordnung zur Sicherung von Vermögenswerten, veröffentlicht im Gesetzesblatt der DDR vom 26. Juli 1952, beschlagnahmt. Auf die Gemeindeverwaltung kam damit viel Arbeit zu. Die Wohnungen mussten geöffnet, Möbel, Ausstattung und Kleidung taxiert werden. Oftmals ließen die Leute offene Ratenzahlungen für Rundfunkgeräte oder Schlafzimmermöbel zurück. Dann bekam der Händler, meistens die Konsumgenossenschaft, die Waren zurück.

Nicht selten stellten Familienangehörige Forderungen. Eltern oder Schwiegereltern reklamierten, dass sie Kinderbetten oder Flurgarderoben angeschafft hatten. Mit den entsprechenden Quittungen oder eidesstattlichen Erklärungen erhielten sie ihr Eigentum wieder.

Ein Vater hatte wochenlang geholfen, das Haus seiner Tochter und seines Schwiegersohns zu sanieren. Kurz danach siedelten sie in den Südwesten um. Für Arbeiten an Dachstuhl, Fenstern, Vorbau und Gara-gentor stellte er 1230 Mark in Rechnung. Der damalige Gerwischer Bürgermeister erkannte die Forderungen an. Aus dem Verkaufserlös des Schlafzimmers wurde der Vater bezahlt.

Ein zuvor in der Thälmannstraße wohnhafter Mann flehte im November 1954 den Rat der Gemeinde an, seiner Mutter in Magdeburg seine Möbel zu überlassen. „Da meine Mutter eine arme Witwe ist und auch durch den Krieg ausgebombt war, bitte ich nochmals, meine Möbel meiner Mutter zu geben.“

Die übrigen Gegenstände, ob Kinderbekleidung, Couchgarnitur, Bettdecken oder Kochtöpfe, wurden verkauft. Jeder Verkauf wurde penibel dokumentiert und das Geld nach Abschluss aller Verkäufe auf ein Konto des Rates des Kreises eingezahlt.

Es gab auch Fälle, bei denen auf einen Verkauf verzichtet wurde oder Hilfsbedürftige wie Umsiedler unterstützt werden sollten. Das Eingemachte, das im Keller einer Familie gefunden wurde, erhielt die Kinderkrippe, ebenso wie den Rodelschlitten. Das Klavier, das als einziger Wertgegenstand in der Wohnung einer Frau gefunden wurde, ging zur Nutzung an die Gerwischer Thälmann-Pioniere. Die Empfangsbestätigung unterschrieb der Schulleiter, der wenige Wochen später selbst zu den Republikflüchtigen gehörte.

Die Verordnung zur Sicherung von Vermögenswerten vom 17. Juli 1952 regelte darüber hinaus, wie mit landwirtschaftlichem Vermögen und Grundbesitz umzugehen war. Profitieren sollten die volkseigenen Güter oder landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG). In Gerwisch betraf das zwei große Höfe. LPG-Mitglieder erhielten die Möglichkeit, die Einrichtungsgegenstände zu erwerben. In einer Zeit des Mangels wurde davon Gebrauch gemacht.

Die wahren Fluchtursachen seien schwer zu ermitteln, schrieb Damian van Melis in seiner Studie. Bei Befragungen wurden vor allem politische Gründe in den Vordergrund gestellt. Das schüre den Verdacht, dass bevorzugt geantwortet wurde, was die Fragesteller hören wollten. Bauern gingen, weil sie nicht in die LPG eintreten wollten, Arbeiter wegen alltäglicher Sorgen und Probleme, Akademiker, weil ihre Reisefreiheit oder Zugang zu internationaler Forschung eingeschränkt war. Auch gescheiterte Ehen, und unerwünschte Vaterschaften spielten eine Rolle. Als in Gerwisch eine Schwangere mit kleinem Kind vom Ehemann und Vater sitzengelassen wurde, machte sich der Bürgermeister stark, dass sie in der Wohnung bleiben durfte.

* Alle Namen im Text sind geändert.