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Heimatgeschichte Gardelegens Industrialisierung beginnt mit einer Knopffabrik

Von Cornelia Ahlfeld 24.04.2021, 05:05
Das Gebäude der Knopffabrik von Carl Koch in der Magdeburger Straße um 1946.
Das Gebäude der Knopffabrik von Carl Koch in der Magdeburger Straße um 1946. Foto: Archiv Rupert Kaiser

Gardelegen

Rupert Kaiser, Mitarbeiter der Stadtverwaltung, erinnert im nachfolgenden Beitrag an die Knopfherstellung in Gardelegen.

Ende der 1830er Jahre machen sich die drei Gardelegener Nadlergesellen Wilhelm Frese, Carl Günther und Carl Koch auf die Socken in Richtung Wien. Ihr Handwerk haben sie beim Nadlermeister August Lohrich in der Sandstraße von der Pike auf gelernt. Sie haben gehört, dass Nadler in Österreich dringend gebraucht werden. Die sollen die Ösen für jene Perlmuttknöpfe herstellen, die in der Donaumonarchie gerade ihre Blütezeit erleben.

Als sich die drei vor den Toren der Donaumetropole trennen, schwören sie sich, nach drei Jahren nach Gardelegen zurückzukehren. Der wohl hellste Kopf der Gesellen ist Carl Koch, damals 28 Jahre alt. Der nämlich fertigt nicht nur eine Öse nach der anderen, sondern lernt nebenbei, wie Perlmuttknöpfe gemacht werden, erst in Wien, dann in Großwardein und in Budapest. So gerüstet und weit gereist, kehrt er am 7. März 1841 nach Gardelegen zurück. Das ist deshalb so genau bekannt, weil so etwas damals noch in der Zeitung mitgeteilt wurde. Im Gepäck hat er nicht nur jede Menge geballtes Wissen, sondern auch Material für die erste Zeit und – dies vor allem – Beziehungen. Die schaden auch damals schon nur demjenigen, der keine hat.

Drei Männer – ein Schwur

Und so beginnt er am 1. April in einem längst verschwundenen Hinterhaus in der Magdeburger Straße auf eigene Rechnung Perlmuttknöpfe zu produzieren. Schon ein Jahr später ist das Gartenhäuschen zu klein, aber der finanzielle Gewinn aus der Knopfproduktion so groß, dass Carl Koch von Justizrat Behrens ein Grundstück in der Magdeburger Straße erwerben und hier seine „Manufactur zur Fabrication von Perlmutt-Knöpfen“ einrichten kann.

Gleichzeitig beginnt Wilhelm Frese, einer der drei Gesellen, in der Burgstraße mit der Knopfproduktion. Doch den Vorsprung von Carl Koch kann er ebenso wenig aufholen wie die weiteren dreizehn Fabrikationsstätten für Knöpfe, die bis 1858 in der Burg- und der Hopfenstraße, am Klingberg und in der Magdeburger Straße wie Pilze aus dem Boden schießen.

Einer der neuen Produzenten ist Carl Günther. Die drei Gesellen sind tatsächlich alle in die Heimat zurückgekehrt. Gardelegen wird zum Mekka der Knopfherstellung in Deutschland. Aber Carl Koch ist immer mindestens eine Nasenlänge voraus. Seine Knöpfe werden nicht nur bei der Deutschen Gewerbe-Ausstellung 1844, sondern auch auf den Weltausstellungen 1853 und 1862 mit Medaillen geehrt.

Um 1870 steht der Produktionszweig in voller Blüte. Zu den Wäscheknöpfen kommen nun Knöpfe für Konfektion und Militär und bald auch Modeartikel wie Schnallen und Schmucknadeln. Knöpfe aus Gardelegen führen auf dem Weltmarkt. Oder sollte man sagen: Knöpfe von Koch?

Das bleibt so bis in die 30er Jahre. Anfang des 20. Jahrhunderts erwächst den Produzenten in der Altmark Konkurrenz aus Fernost, wo man in der Lage ist, billiger zu produzieren. Die Gardelegener Antwort sind Knöpfe aus neuartigen Werkstoffen, wie Horn und Kunstharz, damals „Galalith“ oder Milchstein genannt. Und aus Kochs Manufaktur wird die Knopffabrik – mit mehr als 200 Beschäftigten – größter Arbeitgeber der Stadt. Zweite Säule der Gardelegener Knopfproduktion ist seit 1914 die „Buttonia“ von Joseph Beutler im Jägerstieg. Angesichts dieser beiden Marktführer müssen die meisten kleinen Unternehmen die Segel streichen. Vier Betriebe überleben die Weltwirtschaftskrise. 1932 finden mehr als 400 Gardelegener in der Knopfindustrie Lohn und Brot. Gardelegen bleibt führend auf dem Weltmarkt. Und die Kochsche Knopffabrik, nach Kochs Tod im Jahre 1900 in den Händen von Wilhelm Winkelmann, dem Enkel des Firmengründers, hat wieder den richtigen Riecher. Die 36 Millionen Einzelknöpfe, die jährlich in der Magdeburger Straße produziert werden, haben eine nie dagewesene Vielfalt, sind farbig und modisch. Kunststoff und Plexiglas machen es möglich.

Not wird zur Tugend

Waren die Firmengründer schon Stehaufmännchen, so ist 1945 nun die ganze Branche gezwungen, wieder aufzustehen. Firma Winkelmann, vormals Koch, in der Ernst-Thälmann-, vormals Magdeburger Straße, und die „Buttonia“ im Jägerstieg haben die Kriegswirren überstanden. Sie machen aus der Not fehlender Materialien eine Tugend. Sie produzieren Knöpfe aus dem Holz der umliegenden Wälder, und das in vielen verschiedenen Formen. Die finden auf der ersten Leipziger Friedensmesse vom 8. bis 15. Mai 1946 große Anerkennung bei Vertretern des In- und Auslands. Messegold war noch nicht erfunden. Das gab es erst in den sechziger Jahren. Unter den ersten Medaillenträgern waren Knöpfe aus Gardelegen. Da waren die beiden Gardelegener Firmen längst enteignet und firmierten erst unter dem Namen „Industriewerke Sachsen-Anhalt Knopffabrik Gardelegen“ und schließlich als VEB Knopffabrik Gardelegen.

1971 sind noch immer die Auftragsbücher des in der Ernst-Thälmann-Straße und im Jägerstieg produzierenden VEB Knopffabrik Gardelegen gut gefüllt. Spritzguss, Plaste und Chemiefasern sind die neuen Werkstoffe. Doch es gibt Betriebe, die billiger – damals hieß es rentabler, heute würde es heißen effizienter – produzieren. Die Produktionsstätten in Gardelegen werden geschlossen. Die letzten hier entwickelten Kreationen kommen nicht mehr auf den Markt. Nach 130 Jahren ist die Knopffabrikation, der bis dahin erfolgreichste Industriezweig der Stadt, zu einer wirtschaftsgeschichtlichen Fußnote geworden.

An die Knopfproduktion erinnert heute nichts mehr. Das Haus in der Ernst-Thälmann-Straße machte einem Seniorenheim Platz. Im Jägerstieg, wo die „Buttonia“ stand, befinden sich Eigenheime. Und das Grab von Carl Koch, der sich vor mehr als 180 Jahren aufmachte, um in der Donaumonarchie das Knopfmacherhandwerk zu erlernen, ist längst eingeebnet.