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Gedenken Ein erster Blick durch die Scheiben

13 Gardelegener Abiturienten nehmen mit einer Sonderführung auf der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Abschied von der AG Stolpersteine.

Von Jolina Schlaß 13.07.2020, 21:00

Gardelegen l Das Abitur ist geschrieben, die Zeugnisverleihung liegt hinter ihnen, und die Wege der Abiturienten des Abschlussjahrganges 2020 des Geschwister-Scholl-Gymnasiums trennen sich bald. Doch zuvor hieß es noch einmal Abschied nehmen von der AG Stolpersteine, der 13 Schüler des Jahrganges drei Jahre lang angehörten. Sie trafen sich ein vorerst letztes Mal an der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe.

„Bei der Gründung vor sieben Jahren waren wir nur eine kleine Gruppe“, erinnerte sich Andrea Müller, Geschichtslehrerin und Leiterin der AG. Sie sei stolz darauf, dass sich die Zahl der Mitglieder von 15 auf 30 Schüler verdoppelt habe. Obwohl es in den vergangenen zwei Jahren keine Verlegung von neuen Stolpersteinen vor den Wohnhäusern jüdischer Familien gegeben habe, sei die Gruppe dennoch aktiv gewesen. Für ihr besonderes Engagement sei die AG im Jahr 2018 mit dem Bürgerpreis Altmark-West in der Kategorie U 21 ausgezeichnet worden.

Zusammen hat die eingeschworene Schülergruppe auch Neuland entdeckt. Sie wirkte bei dem MDR-Dokumentarfilm „Auf Spurensuche in Gardelegen“ mit, nahm zusammen mit dem Verein Miteinander eine Podcast-Folge auf und richtete sich ihren eigenen Instagram-Account ag_stolpersteine ein. Im Vordergrund standen aber nach wie vor die Geschichten der jüdischen Familien aus Gardelegen. Hannah Weber ist bis heute schwer beeindruckt von dem Zusammentreffen vor zwei Jahren mit den Nachkommen der jüdischen Familien Hesse und Rieß. Einige waren extra für die Verlegung der Stolpersteine von London nach Gardelegen gereist. „Durch das persönliche Treffen mit den Nachkommen bekamen die Geschichten ein Gesicht“, sagte die 18-Jährige.

Es waren aber auch oft zufällige Begegnungen, die die Mitglieder motivierten, sich weiter zu engagieren. Eine solche Begegnung machte Hanna Beckmann. Sie traf beim Reinigen der Stolpersteine in der Stadt eine Frau aus Lübeck, die Rosen an jeden Stolperstein legte, und kam mit ihr ins Gespräch. „Es ist schön, mit den verschiedensten Menschen in Kontakt zu kommen und zu sehen, wie groß die Unterstützung des Projektes Stolpersteine auch außerhalb der Stadtgrenzen ist“, betonte Beckmann.

Mitglieder der AG Stolpersteine hätten zudem oft an Veranstaltungen auf der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe teilgenommen und diese auch aktiv mitgestaltet. Ammar Shakir hatte zuletzt am Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust am 27. Januar dieses Jahres mit anderen Mitgliedern der AG eine Rede gehalten. Auch zur Eröffnung des neuen Besucher- und Dokumentationszentrums am 6. April, die aufgrund von Corona abgesagt werden musste, waren die Schüler der AG eingeladen.

„Die offizielle Eröffnung ist nun für den Herbst geplant“, informierte Gedenkstättenleiter Andreas Froese. Bis dahin müsse man sich mit einem Blick durch die Fenster begnügen. Während einer Führung um die neue Gedenkstätte berichtete Froese von der Zunahme von Vandalismus und Diebstählen auf dem Gelände. Die 2019 gestohlene Gedenktafel aus Beton, auf der die Namen der polnischen Opfer des faschistischen Massakers verewigt waren, ist bis heute verschwunden. Nicht nur er, sondern auch seine Kollegen von anderen Gedenkstätten würden immer mehr Straftaten verzeichnen. „Es gibt einen Stimmungswandel bei Besuchern“, berichtete Froese.

Für Ammar Shakir bestätigte sich damit eine Vermutung: „Wir entwickeln uns in die falsche Richtung.“ Obwohl es nur eine kleine Schülergruppe sei, beziehe doch jedes einzelne Mitglied dazu eine Gegenposition, betonte Andrea Müller. Sie sei froh, dass es weiterhin ein großes Interesse seitens der Schüler an der Arbeitsgemeinschaft gebe und dass auch mit Beginn des neuen Schuljahres Ende August neue Mitglieder nachrücken würden. Dem 19-jährigen Travis Kusian war es besonders wichtig, dass nicht nur Unterstützer der Stolpersteine-AG, sondern die breite Bevölkerung eines versteht: „Wir sind zwar nicht dafür verantwortlich, was passiert ist, aber dafür, was passieren wird.“

Die Abiturienten werden jetzt ein Studium oder eine Ausbildung beginnen oder auch als Backpacker in Neuseeland unterwegs sein. Zur Eröffnung des Besucher- und Dokumentationszentrums im Herbst und zur nächsten Verlegung von Stolpersteinen in Gardelegen am 27. November wollen die meisten aber wieder zurück in ihre Heimat kommen und „ihre“ Steine besuchen.