Travestie Wie Otto zur Dorfdiva Ottilie S. wird
Otto Selau (16) aus Tarnefitz ist leidenschaftlicher Travestie-Künstler - mit allem, was dazugehört: Comedy, Klamauk und vielen Kostümen.
Gardelegen l „Du glitzerst schon wieder, Otto.“ Diesen Satz hört der 16-Jährige öfter mal, wenn er montags wieder in seiner neunten Klasse in der Schule sitzt. Es ist der Glitter vom Wochenende, wenn Otto nicht Otto ist, sondern zur Dorfdiva Ottilie S., Erotiktänzerin Miss Judithchen mit den Tittchen oder zu Stars wie Cher oder Nana Mouskouri wird.
Otto Selau ist das, was man eine Rampensau nennt. Schon als Grundschüler war der Tarnefitzer als Gisela bei den Miester Drömlingsspatzen verkleidet in Aktion und sorgte für die Lacher zwischendurch. Vor rund drei Jahren entdeckte der Schüler die Travestie für sich – er liebt und lebt sie. Seine Kostüme schneidert der Neuntklässler alle selbst, näht auch nachts mal noch glitzernde Pailletten an, klebt hunderte Strohhalme oder Federn ans Kleid oder bastelt aus Toilettenrohr aus dem Baumarkt meterhohe imposante Hauben für seine Kostüme. „Tischläufer sind super, drei Stück sind genau meine Größe“, erzählt Otto – wohlgemerkt: drei Tischläufer werden für ihn ein Kleid. Besonders die Federn haben es in sich: „Ein Staubsauger hat die Boas schon nicht überlebt.“
Dazu kommen dann Plastikblumen, Badeschwämme, Kunstschnee als Glitter im Gesicht, Federn – bei Dekomaterial kennt sich wohl kein 16-Jähriger besser aus als Otto Selau. Zurzeit sammelt er seine ganzen Abschminktücher – auch aus ihnen soll irgendwann ein Kostüm für eine Show werden. Meist ist erst das Kostüm da, „danach mach ich die Nummer“. Die Anregungen dazu holt er sich im Alltag: in der Schule, bei den Nachbarn – beim Beobachten von Leuten im Einkaufsmarkt. „Ich gucke mir die Leute an, und dann kommen die Ideen.“ Auch die frivolen.
Denn bei der Show sitzt er schon mal bei Herren, die mitmachen, auf dem Schoß. Er weiß, dass er provoziert – in seinem jugendlichen Alter sieht er kein Hindernis. Otto spielt seine Rollen und betont: „Ich würde mir niemals im Alltag das rausnehmen, was sich Miss Judithchen rausnimmt.“ Die Zuschauer seien immer unterschiedlich. „Und natürlich gibt es Szenen, wo sich Frauen angegriffen fühlen, wenn ich da mit Hängebrüsten komme. Aber das Publikum ist nicht da, um Shakespeare zu hören.“
Der Blondschopf liebt es, „sich benehmen zu können, als wäre man jemand anders, denn der Privatmensch Otto interessiert niemanden, wenn ich auf der Bühne stehe“. Es ist dieser Humor unter der Gürtellinie, der ihm gefällt. „Auch wenn nicht jeder damit klarkommt, die Schamhaare zu kämmen.“
Sein Ziel: „Dass das Publikum lacht.“ Was ihn an der Travestie begeistert, ist die Vielfalt: Comedy, Gesang, Plauderei, Kostüme, Perücken, Illusion, Improvisation und Provokation. „Nicht nur ein bisschen Tanzen und Glitzerfummel“, sagt Otto. Als junger Mann in Frauenkleidern? „Ich bin schon als Kind in den Tanzschuhen meiner Oma gelaufen.“ Wie man lernt, in Plateauschuhen zu gehen? Ein entrüsteter Blick und die Antwort: „Das kann man!“ In die Rolle als Frau schlüpft er zu gerne – seine Brüste sind mit Watte ausgestopfte Strumpfhosen. Und seitdem er allen gesagt hat, dass er schwul ist, „fällt mir das noch leichter“.
Dass er auf Männer steht, verkündete er nach einem Referat in der Schule. Vor eineinhalb Jahren, als Otto noch die katholische Eichendorff-Schule in Wolfsburg besuchte, hielt er ein Referat über Homophobie. Und nachdem er erläutert hatte, was die Aversion gegen Schwule und Lesben ausmacht, beendete er seinen Vortrag mit den Worten: „Ich bin schwul.“ Und er fügt lachend hinzu: „Die Lehrerin war fertig, und ich habe ne Fünf bekommen.“ Dagegen habe jedoch seine Klasse protestiert, die Fünf verschwand.
Seine Familie unterstützt den jungen Mann: „Mutti ist meine schärfste Kritikerin.“ Und als sie bei seinem Auftritt beim Weihnachtstanz im Schützenhaus ganz hinten saß, „bekam sie von Nana Mouskouri auch eine Rose“, erzählt Otto. Seine Oma war auch schon mit bei einer Travestie-Show – und fragte am Ende ganz überrascht: „Das sind alles Männer?“ Travestie lebe vom Heteropublikum, findet der Künstler.
Mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, hat Otto beim Straßentheater in Wolfsburg gelernt. Und es geht auch mal was daneben. Als er als Amy Winehouse bei einer Show auftrat, pustete er Backpulver in die Luft. Ein Herr bekam es direkt ins Gesicht. „Das war mir so unangenehm, aber es ist nochmal alles gut gegangen.“
Als Grundschüler in Mieste sang Otto mit im Chor der Drömlingsspatzen – und blieb vielen Zuschauern bis heute in seiner Rolle als Gisela vom Dorf in Erinnerung. Die Gisela hat er noch immer im Programm. Nach seinem Wechsel auf die weiterführende Schule kam er schnell zum Wolfsburger Theater, spielte dort Weihnachtsmärchen, aber auch ernste Stücke mit Kindern und jungen Erwachsenen. Wenig später war er vor allem bei den Requisiten und in der Schneiderei tätig – und näht sich seitdem jedes Kostüm selbst. Hunderte Kleider, die mehrere Räume füllen, hat Otto für seine Shows zur Verfügung. Dazu kommt noch eine Stange mit Fragezeichen im Schrank – die Kleider, wo noch nicht klar ist, zu welcher Rolle sie vielleicht passen.
In Brandenburg, wo er zurzeit die neunte Klasse einer Oberschule besucht, ist er seit einem Jahr zweimal die Woche bei Proben beim Impro-Theater mit körperlich und geistig Behinderten aktiv – und in zwei Karnevalsvereinen. „Beim Karneval geht alles.“ Sein Wunsch ist ganz klar: die Travestie zum Beruf zu machen. Illusionen hat er keine:. „Das ist ein hartes Geschäft.“ Er selbst bewundert Olivia Jones und Hape Kerkeling als Schlagerstar Uschi Blum.
Vor der großen Show steht immer das Schminken an. Eineinhalb Stunden braucht er, bevor sein Bühnengesicht fertig ist. „Die Augenbrauen aufzuzeichnen, ist total schwierig.“ Und spätestens, wenn der junge Mann eine seiner vielen Perücken aufsetzt, ist er nicht mehr Otto, sondern wirklich Ottilie S. oder Miss Judithchen.
Vor seinem Auftritt mit neuem Programm am Sonnabend, 21. Mai, im Gardeleger Schützenhaus hat er wie immer „richtig Bauchschmerzen“. Die Travestie-Sommerrevue „Träume werden wahr“ zusammen mit weiteren Künstlerinnen – darunter eine Dame, die nicht ganz von Sinnen ist – wird zweieinhalb Stunden dauern. Und wenn Otto am Montag wieder die Schulbank drückt, hört er von seinen Mitschülern wohl sicher: „Du glitzerst schon wieder.“
Beginn der Travestie-Sommerrevue am Sonnabend, 21. Mai, im Schützenhaus ist um 20 Uhr, Einlass ab 19 Uhr. Karten (12 Euro)gibt es im Schützenhaus, in der Miester Touristinformation und an der Abendkasse.