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Weltkusstag Wenn die Seele auf den Lippen liegt

In den 1990er Jahren etablierten die Briten einst den Tag des Kusses. Als Antwort auf die überstrenge Moral der Margaret-Thatcher-Ära.

Von Susanne Christmann 06.07.2020, 01:01

Genthin l Nichts krönt eine Hochzeit mehr als der Kuss der frisch getrauten Eheleute vor der versammelten Festgemeinschaft. Keine Frage, auch Franzisca und Andy Müller zeigten am vergangenen Sonnabend nach ihrer Trauung im Schloss Dretzel mit einem innigen Hochzeitskuss auch den anderen ihre Liebe und Verbundenheit.

Den internationalen Tag des Kusses hatten die beiden, die seit acht Jahren ein Paar sind und sich einst in Güsen beim Handball kennengelernt haben, bei ihrer Hochzeitsplanung wohl nicht bewusst im Blick. Warum auch - Liebenden braucht man mit einem dafür gewidmeten Tag das Küssen nun wahrlich nicht extra näher bringen. Die tuns einfach oft und gern. Das, was das Internetlexikon Wikipedia mit „oralem Körperkontakt mit einem Lebewesen oder einem Objekt“ erklärend umschreibt. Wer es jetzt noch genauer wissen will, der widme sich fortan der Philematologie, der wissenschaftlichen Erforschung des Kusses.

Der Ursprung des Kusses als heutiger Ausdruck für Freundschaft und Liebe ist wenig romantisch. Wissenschaftler sagen, dass der evolutionäre Ursprung bei der Versorgung der Nachkommen liegt. Unsere Vorfahren, die Affen, haben vorgekaute Nahrung an ihre Kinder weitergegeben. Daraus sei das heutige Küssen als Begrüßungsritual entstanden. Freuen wir uns doch aber heute einfach über all das Angenehme, was ein Kuss mit sich bringen kann. Denn, so erklärt Dr. Renate Meißner, praktizierende psychologische Psychotherapeutin in Burg, „bei einem Kuss werden das Bindungshormon Oxytocin sowie die Hormone Serotonin und Dopamin ausgeschüttet. Damit leistet ein Kuss einen großen Beitrag für den Abbau von Stress und das soziale Bindungsgefühl sowie das seelische Wohlbefinden von Menschen.“

Genau das scheint bei den „Prinzen“, der in der Nachwendezeit überaus erfolgreichen Popgruppe aus Leipzig, mal grundlegend nicht funktioniert zu haben. „Küssen verboten!“ hieß 1992 denn nicht nur ein Hit von ihnen, sondern er gab auch den Titel für ein komplettes Album ab. 1993 waren die „Prinzen“ gar auf einer „Küssen verboten!“-Tour.

„Keiner, der mich je gesehen hat, hätte das geglaubt / Küssen ist bei mir nicht erlaubt“, sang der junge Sebastian Krummbiegel damals mit rotgefärbten, aufrecht gesprayten Stoppelhaaren unmissverständlich ins Mikro. Weil eben nicht jeder, der Küssen möchte, beim Gegenüber auf Gegenliebe stößt.

Wenn für zwei ein Kuss tatsächlich ein intimes Wohlfühlerlebnis werden soll, dann muss die Chemie zwischen den beiden Küssenden schon stimmen. Weil halt nur dann, so weiß es Renate Meißner, „tausende Nervenzellen Signale ans Gehirn senden und ein sinnliches Erlebnis bewirken“ können. Bis zu achtzig Millionen Keime, so die erfahrene Psychotherapeutin, würden bei einem zehn Sekunden langen Kuss ausgetauscht. Damit stärke der Kuss auch das Immunsystem, könne es aber auch gleichzeitig durch Übertragung von Krankheitskeimen schwächen.

Also am besten gar nicht mehr küssen wegen Corona? Dr. Meißner: „Es ist wichtig, so viel Normalität wie möglich aufrechtzuerhalten und dabei verantwortungsbewusst zu handeln, das heißt, andere Menschen nicht in Gefahr zu bringen. Menschen, die miteinander leben, sollten für sich entscheiden, wie viel Nähe sie brauchen und einander schenken wollen“.

Die Autorin dieser Zeilen liest aus diesen Worten auch ein Hoch auf die Treue heraus. Und, dass Fremdküsser in Corona-Zeiten jetzt schlechte Karten haben. Genau genommen wissen wir das nicht, denn fremdgeküsst wird ja meistens heimlich. So mancher, der das Risiko dabei liebt, wird sich wohl auch jetzt nicht davon abhalten lassen.

Für uns treue Seelen kann es ein tröstlicher Gedanke sein, dass es ja nicht nur den innigen Liebeskuss gibt. Nein, auf den öffentlichen Bruderkuss, wie ihn Weiland Erich Honecker mit den sowjetischen Freunden pflegte, wollen wir hier wirklich nicht eingehen. Bei dieser feuchten Angelegenheit haben wir schon damals nur höchst ungern zugeschaut.

Aber ein echter Handkuss eines Gentlemens, bei dem dessen Lippen eben nicht die Hand der Dame berühren, kann doch auch eine formvollendete Geste der Zuwendung sein, oder? Auch wenn er in unseren Breiten längst aus der Mode gekommen ist. Statt eines Bussis auf Wange oder Mund können wir uns auch mit einem aus der Entfernung auf die Reise gesandten Luftkuss verabschieden.

Wer Phantasie hat, bei dem vermag vielleicht auch Kopfkino das angestrebte Wohlgefühl zu erzeugen. Einfach mal ausprobieren und vor Gustav Klimts berühmtes Jugendstil-Gemälde „Der Kuss“ in der Österreichischen Galerie Belvedere in Wien stellen und schon könnte es losgehen. Ein guter Druck oder andere Kunstwerke in den heimischen Museen tun es aber bestimmt ebenso.

Platon, der antike griechischer Philosoph, so Renate Meißner, sei übrigens der Meinung gewesen, dass sich mit dem Kuss die Seele aus dem Körper auf die Lippen verlagere. Welch‘ schönes und treffendes Bild! Was soll aber jemand machen, der niemanden zum Küssen hat? Dr. Renate Meißner: „Es gibt viele Formen der Zuwendung und Wertschätzung gegenüber anderen Menschen. Solidarität, Hilfsbereitschaft, Anteilnahme sind in sozialen Kontakten, auch ohne Kuss, positiv für die seelische und körperliche Gesundheit.“