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95. Geburtstag Halberstadt im Kopf und im Herzen

Halberstadts Ortschronist Werner Hartmann wird am 5. März 95 Jahre alt. Ans Aufhören denkt er dennoch nicht.

Von Gerald Eggert 04.03.2018, 23:01

Beide beginnen mit einem H und werden oft in einem Atemzug genannt: Halberstadt und Ortschronist Hartmann, der sich seit mehr als sechs Jahrzehnten der Historie der Domstadt widmet. Der Ehrenbürger feiert heute seinen 95. Geburtstag. Aus diesem Anlass sprach die Volksstimme mit dem agilen Ruheständler, der Tag für Tag auf seiner Schreibmaschine tippt – dabei nutzt er weder Brille noch Hörgerät.

Volksstimme: 95 Jahre - das ist ein stolzes Alter, das nicht viele Halberstädter mit Ihnen teilen können. Was haben Sie getan und was tun sie aktuell, um körperlich und geistig fit zu bleiben?

Werner Hartmann: Ganz einfach. Ich habe nie geraucht, nie Alkohol getrunken und nur eine Frau gehabt. Und ich folge meinem täglichen Rhythmus, der mit dem frühen Aufstehen beginnt. Früher ging es zur Arbeit, heute führt mich der nächste Weg zur Schreibmaschine. Ich habe vier davon, eine klappert immer. Etwas für Geist und Körper tun, ist meine Devise. Ich lese viel, auch um zu wissen, was nah und fern passiert. Und ich bewege mich. Habe ich gut 50 Jahre ausgedehnte Spaziergänge mit meinen Hunden unternommen, bin ich jetzt ziemlich oft mit meinen Freunden Dieter Behrens und Heinz Lüders unterwegs. Ich habe jeden Tag Programm. Müßiggang schadet nur.

„Nicht verzagen, Hartmann fragen“, das ist mehr als eine Redewendung und schon lange kein Geheimtipp mehr. Wer kontaktierte Sie bisher und was wollten die Leute wissen?

Ich bekomme regelmäßig Briefe und Anrufe von Menschen aus Deutschland und aus anderen Ländern. Schüler und Studenten besuchen mich, weil sie etwas über Halberstadts Geschichte erfahren wollen. Journalisten fragen nach, geht es um die Domstadt und den Harz. Zu 95 Prozent konnte ich in jedem Fall helfen. Inzwischen melden sich vermehrt auch Leute, die Ahnenforschung betreiben.

Und wenn Sie mal eine Frage nicht sofort beantworten können?

Das kommt schon mal vor. Dann ziehe ich eine Karte zum Thema aus dem Karteikasten und weiß, wo ich im riesigen Archiv suchen muss. Wenn ich die Antwort habe, rufe ich zurück.

Wie hat das Sammeln, Recherchieren und Aufschreiben begonnen?

Als ich aus dem Krieg heimkehrte, war ich arbeitslos, habe beim Enttrümmern täglich viele Stunden gearbeitet, konnte mir aber kaum etwas leisten. Ich erkrankte schwer an Tuberkulose und musste zehn Jahre lang immer wieder ins Krankenhaus. Dort hatte ich Zeit und begann mich näher mit Halberstadt und seiner Geschichte zu beschäftigen. Meine Frau brachte mir eine Art Bett-Tisch, sodass ich im Liegen lesen und auf der Schreibmaschine schreiben konnte. Ich meine, dass mir diese Beschäftigung das Leben gerettet hat.

Gibt es eine besondere Vorgehensweise, wenn ein Thema bearbeitet wird?

Will ich ein neues Thema angehen, verschaffe ich mir zunächst eine Übersicht in der Kartei, was ich darüber archiviert habe. Ein ganz simples System, das ohne Strom und Technik funktioniert. Selbstverständlich nutze ich ergänzend die Möglichkeit, auf andere Quellen und Archive zurückzugreifen.

Wie war die Aufarbeitung von Geschichte zu DDR-Zeiten?

Ich war viele Jahre Referent von Kulturbund und Urania, habe rund 2000 Vorträge über Halberstadt und die Harzregion gehalten. Die Leute waren schon interessiert an dem, was ich herausgefunden und aufgeschrieben hatte. Allerdings blieben einige Arbeiten in der Schublade. Dort lagen Manuskripte unter anderem über die Militärgeschichte und das Flugwesen. Das wusste niemand. Ich hätte große Probleme bekommen. Zumal ich mitbekomme habe, dass ich beobachtet wurde. Auch wollte ich bestimmten Themen keinen sozialistischen Touch verleihen und ließ die Finger davon. Ich habe mir aber auch manches nicht gefallen lassen. So habe ich mich an einer Unterschriftensammlung gegen die Sprengung der Paulskirche beteiligt. Die nach der Wende erschienenen zehn Bände über die Militärgeschichte und mehrere Bücher über Flugzeuge gingen weg wie warme Semmeln. Auch meine Broschüren über die Juden kamen nach und nach heraus. Den ersten Band wollte ich 1988 in Halberstadt genehmigen lassen und bekam ein striktes Nein zu hören. Pfarrer Martin Gabriel sprach mit dem Manuskript im Berliner Kulturministerium vor und kam mit einer Druckgenehmigung wieder.

Ihr Archiv ist Jahr um Jahr angewachsen. Die Zahl der Aktenordner und Fotokisten ist groß, die Literatursammlung über Halberstadt und den Harz ebenfalls. Auch die unzähligen eigenen Zeitungsartikel sowie die von ihnen gefüllten Broschüren und Bücher sind beachtlich. Wie behält man da den Überblick?

Ich habe viel gesammelt und immer wieder mal etwas geschenkt bekommen. Unzählige Ordner und Schnellhefter stapelten sich. 16 000 Fotos von Halberstadt, 25 000 Dias von Halberstadt, dem Harz und anderen Gegenden füllten die Kästen. Neun Meter Literatur über Halberstadt und acht Meter über den Harz, darunter meine eigenen Veröffentlichungen, sieben Meter Biografien und eine Menge Nachschlagewerke füllen die Regale in meinem Arbeitszimmer. Ich weiß genau, wo jedes Buch steht.

Sie widmen sich so unterschiedlichen Themen. Welchem galt bisher die meiste Aufmerksamkeit?

Der Halberstädter Musikgeschichte. Ich habe neun Ordner mit je 300 Seiten gefüllt über Musiker, Sänger, Ensembles, Aufführungen, Gastspiele und anderes mehr. Zehn Jahre Arbeit stecken darin. Auch die Lebensbilder von berühmten und verdienstvollen Halberstädtern und Harzern haben einen solch großen Umfang.

Haben Sie mal etwas nicht nur für sie Überraschendes herausgefunden?

Ja, eine ganze Menge. Man stößt beim Durchforsten von Literatur auf Dinge, die in Vergessenheit geraten und daher so gut wie unbekannt sind. So fand ich etwas über eine Scheintote im 17. Jahrhundert heraus, die im Sarg wieder aufgewacht ist. Oder über eine Frau, die in Männerkleidern aufgetreten ist und deshalb auf dem Fischmarkt gehängt wurde. Am Hauptbahnhof habe ich ein Grab gefunden von einem Menschen, der am 7. April 1945 dort umgekommen ist. Und dann sind da noch die vielen Schicksale von jüdischen Mitbewohnern. Da habe ich so viel herausbekommen, was niemand oder nur wenige wussten und was nicht in Vergessenheit geraten sollte.

Sie pflegen bereist seit 60 Jahren Kontakte zu ehemaligen jüdischen Mitbürgern und deren Nachfahren und haben allein acht Broschüren über Juden in Halberstadt veröffentlicht. Was war der Anlass, sich mit diesem Thema so intensiv zu beschäftigen?

Als Deutscher und Angehöriger der Kriegsgeneration war es das Gefühl der Mitschuld, welches mich veranlasste, mich um jüdische Friedhöfe und das Wenige zu kümmern, was noch an das jüdische Leben in der Stadt erinnerte. Ich nahm Ende der 1950er Jahre erste Kontakte zu ehemaligen jüdischen Mitbürgern im Ausland auf. 1964 konnte ich den letzten Halberstadt-Rabbiner Hirsch-Benjamin Auerbach aus Tel Aviv beim Gang durch die Stadt seiner Väter begleiten. Meine Suche nach Spuren jüdischer Geschichte und die Bemühungen um die Aufklärung von Einzelschicksalen wurden mit Anerkennungsschreiben vom New Yorker Leo Beck Institut und der Jerusalemer Gedenkstätte „Yad Vashem“ gewürdigt.

Gibt es ein Thema, was Sie gar nicht oder wenig behandelt haben?

Sport. Ich habe zwar einiges gesammelt, aber wenig darüber geschrieben. Das überlasse ich Leuten, die auf dem Gebiet kompetenter sind. Allerdings habe ich den VfB Germania unterstützt, als er seine Chronik in Buchform herausbrachte.

Welchem Thema widmen Sie sich aktuell?

Tore und Türme in Halberstadt. Wir hatten immerhin die Dombergmauer und noch eine Stadtmauer. Da kommen allerhand Tore zusammen, die heute nur noch namentlich existieren wie Tränketor, Breites Tor, Burcharditor, Gröpertor, Johannistor ...

Was sind die schönsten Erlebnisse, die Sie mit Halberstadt verbinden?

Ich habe die Stadt in ihrer (Schein-)Blüte, die Zerstörung und den Wiederaufbau erlebt. Nie habe ich gedacht, dass es zur Wiedervereinigung und unsere Stadt zu einer neuen Blüte kommt. Ich bin froh, dass ich beides erleben durfte. Der Wiederaufbau des Stadtzentrums war für mich das schönste Erlebnis.

Gibt es auch weniger schöne Erlebnisse?

Was mich sehr traurig stimmt ist, dass nach der Wiedervereinigung so große Betriebe wie der Maschinenbau und das RAW den Bach runter gingen. Die Stadt krankt heute noch daran, dass es ihr an großen Unternehmen und entsprechend vielen Arbeitsplätzen fehlt.

Haben Sie einen Lieblingsort in der Stadt?

Ja, den Domplatz, weil er etwas hat, was keine andere Stadt in Deutschland bieten kann. Jeder Blick in eine andere Himmelsrichtung erfasst Gebäude aus einer anderen Epoche: Romanik im Westen, Gotik im Osten, Renaissance und Neoromantik im Süden sowie Barock und Klassizismus im Norden. Dom, Liebfrauenkirche, Dompropstei, der Petershof, die Kurien säumen die geschichtsträchtige Platzanlage im Herzen der Stadt. Hier atmet man Geschichte ein.

Welche Halberstädter der Vergangenheit und der Gegenwart schätzen Sie sehr?

Zunächst unseren Dichtervater Gleim und den Freiherrn Spiegel, der uns die Spiegelsberge schenkte. Auch der Reformpädagoge und Direktor des Lehrerseminars Carl Kehr und dessen Sohn Hans Kehr, der ein bedeutender Gallenwegschirurg war und als Wagner-Verehrer mehrmalige Wagner-Festspiele in Halberstadt initiierte, gehören dazu. Selbstverständlich darf Friedrich Heine nicht fehlen, der die Stadt weltberühmt gemacht hat mit seinen Würstchen. Aus der jüngsten Vergangenheit möchte ich unseren ehemaligen Oberbürgermeister Hans Georg Busch nennen, der vieles zuwege gebracht und der Stadt mit dem neuen Zentrum wieder zu einem Gesicht verholfen hat.

 

Sie lockern Ihre Vorträge mit so manchem „Histörchen“ auf. Damit haben sie sogar fünf Broschüren „100 Halberstädter Histörchen und andere Begebenheiten“ gefüllt? Wie trägt man eine solche Menge zusammen?

Man stößt bei den Recherchen immer wieder auf solch kleine Geschichten, die es weiter zu erzählen gilt. Manche Story habe ich auch selbst erlebt oder von anderen zugetragen bekommen. Diese fanden auch im Programm der Halberstädter Oldies Platz. Meine Frau hat das Drehbuch geschrieben, ich habe Regie geführt. In sieben Jahren hatten wir über 200 Auftritte. Inzwischen habe ich schon wieder viele Histörchen gesammelt, sodass es nunmehr insgesamt 1000 sind.

Wer wird eines Tages Ihre für die Stadt so wertvolle Arbeit fortsetzen?

Keiner. Denn für diese Arbeit braucht man viel Idealismus, Interesse an Geschichte, an der eigenen Stadthistorie. Man muss viel lesen, denn es muss ja alles stimmen. Ich habe keinen Computer, nur die Schreibmaschinen. Heute ist die Beschaffung von Informationen eigentlich viel leichter, doch wer will sich schon mit aufwendiger Chronistenarbeit belasten. Deshalb stelle ich meine 75 laufenden Meter Archivgut dem Museum zur Verfügung. Es wurde bereits alles notariell geregelt. Die Stadt nimmt die Schenkung an und verpflichtet sich, sie als geschlossene Sammlung zu erhalten, zu sichern und zu pflegen sowie öffentlich zugänglich zu machen. 15 Sendungen sind schon im Museum, 15 werden noch folgen. Veröffentlichte und unveröffentlichte Arbeiten gesellen sich nach meinem Tod dazu. Seit 1. März sichtet eine Mitarbeiterin das Material und bereitet es aus. Ab und zu werde ich ihr dabei behilflich sein.