Heimatgeschichte Darum wurde in Dingelstedt am Huy den Kirschen ein musikalisches Denkmal gesetzt

Dingelstedt
Ein Spaziergang rund um Dingelstedt lohnt gerade besonders. Denn in und um den Ort stehen die Obstbäume in voller Blüte und prangen weiß und rosa.
Dingelstedt ist seit Langem bekannt für seinen Kirschenanbau. „Schon im Jahre 1827 hatte es der Tischlermeister Heinrich Fahsel (Haus 28) unternommen, auf einem dreieckigen Ackerstück vor dem Huywalde, dem sogenannten Brusttuch, Kirschwildlinge zu pflanzen, die er selbst veredelte“, heißt es in der Festschrift zur 950-Jahrfeier.
Als markantestes Jahr in der Geschichte des Dingelstedter Kirschenanbaus aber gilt 1835. Da hatte sich der neue Oberförster Eyber erboten, das Gelände zwischen Westerntor und Gemeindeholz (die sogenannte Kuhtrift) mit Kirschbäumen zu bepflanzen.

Schüler und Prominente des Ortes setzen 461 Kirschbäume
Insgesamt 461 Kirschbäume wurden gepflanzt, an dieser Aktion waren führende Persönlichkeiten wie der Schulze, der Pastor, der Kantor, der Organist sowie alle 276 Schulkinder beteiligt.
Mit dieser Pflanzaktion wurde der Grundstein für einen neuen Wirtschaftszweig gelegt, der wesentlich zum Wohlstand der Gemeinde beigetragen hat. Dingelstedt galt sogar lange als „Werder des Harzgaus“. Die Kirschplantagen wuchsen und breiteten sich in alle Richtungen aus, so in das gesamte Arbkeloch, den Hang am Langen Berge, den Eilenstedter Grasewege (heute Abketalstraße) und den Weg nach Röderhof.
1844 kam der Anger vor der Ostenpforte dazu, der seit dieser Zeit Kirschberg genannt wird. Überliefert ist, dass nach dem ersten Weltkrieg sogar ein extra eingesetzter Kirschenzug um 21 Uhr die frischen Früchte nach Braunschweig, Hamburg und Berlin brachte, wo sie am frühen Morgen auf dem Markt verkauft wurden.
Zu DDR-Zeiten war Dingelstedt als das Kirschenparadies bekannt. Von weither kamen die Menschen und holten sich die berühmte „Dicke Braune“, die sich besonders zum Einwecken als Winterkompott geeignet haben soll.
Zeit der Blütenfeste
Doch nach der Wende war Schluss mit dem Run auf die Dingelstedter Kirsche. Südfrüchte machten nun das Rennen. So wurde eine Plantage nach der anderen nicht mehr bewirtschaftet. Viele der Bäume aber stehen heute noch immer.
Weil die Kirschblüte auch ein schöner Grund war, um ausgelassen zu feiern, kam der damalige Heimatverein 1952 auf die Idee, den bereits etablierten Dingelstedter Heimatabend auszuweiten und zu einem Blütenfest einzuladen. Ab 1952 wurde nun in Dingelstedt groß gefeiert und Zeitzeugen berichten noch heute über diese legendären Veranstaltungen Anfang Mai als Magnet für eine ganze Region.
Das Dingelstedter Blütenfest galt als erstes Volksfest nach dem Winter sogar als Startschuss in die neue Saison der Volks- und Schützenfeste, den keiner verpassen wollte.
In Vorbereitung des ersten Blütenfestes 1952 hatte der Dingelstedter Heimatdichter Karl Mingerzahn (1904 bis 1977) ein volkstümliches Theaterstück verfasst. „Kirschenliesel“ wurde zum ersten Fest uraufgeführt. Daran waren sehr viele Dingelstedter beteiligt.
Buch neu aufgelegt
„Das Stück war ein Riesenspaß in einer Zeit ohne Fernsehen, ohne Internet, ohne Smartphones, ja fast ohne Telefone und ohne Musikradiosender“, erinnert sich Verleger Martin Hentrich, der in Röderhof aufgewachsen ist.
Den riesigen Erfolg der Blütenfeste schreibt er auch dem Fakt zu, dass es in der jungen DDR nur wenig zu kaufen gab und sich gerade manche Nachbarn und Freunde in den Westen verabschiedeten, auf der anderen Seite der Zusammenhalt der Dorfbevölkerung sehr groß war.
„Inspiriert durch einige Enthusiasten wurden viele mitgerissen und das Fest wurde keinesfalls passiv erwartet, sondern von den Dingelstedtern selbst aktiv in die Hand genommen.“
Martin Hentrich hat das Mingerzahn-Stück „Kirschenliesel“, das bereits vor fünf Jahren in der Edition Huy erschienen ist, nun erneut in das Programm genommen und wieder aufgelegt.
Er möchte an die Glanzzeit von Dingelstedt als Kirschenhochburg und an die Blütenfeste erinnern, ohne „zu sehr wehmütig zu werden“. Das Buch ist als Band Nummer 18 in der Edition Huy (www.edition-huy.de) käuflich zu erwerben. Es enthält nicht nur das Stück selbst, sondern auch die Besetzungsliste der Uraufführung und ein Vorwort von Karl Mingerzahn, der selbst Gärtnermeister war.
Er heißt im Namen der Dingelstedter Obstbauern-Gemeinschaft die Gäste des Dingelstedter Blütenfestes herzlich willkommen und preist die Blüte und den Zauber der davon ausgeht in poetischen Worten.
Gefeiert wurde übrigens damals unter dem freien Blütenzelt direkt in der Kirschplantage und mit einem Blütenball am Abend auf dem Saal des Dingelstedter Ratskellers.
Stück vom „Kirschenliesel“
Das Stück widmet sich dem Kirschenanbau in Dingelstedt auf drei unterschiedlichen Ebenen. Einmal wird die Geologie des für den Kirschenanbau wichtigen Bodens erklärt und, wie die Ausbeute gesteigert werden kann. Hier kommen auch die Freunde der plattdeutschen Sprache auf ihre Kosten, denn die Obstbauern äußern sich in dieser Mundart.
Daneben werden zwei Liebesgeschichten erzählt, die leider beide ohne Happy End auskommen müssen, weil einer der Burschen wieder die Forstakademie, und der andere die Universität besuchen muss.
Die dritte Ebene beschreibt Hentrich mit „allegorischen und mythischen Figuren wie die Flora, die Zeit, Tag und Nacht, Zwerge“ und sogar der Weingott Bacchus hat seinen Auftritt. Er unterstreicht die Bedeutung des Kirschenanbaus. Zudem spielt eine Weinkelterei mit verschiedenen Kirschweinen eine Rolle im Stück. Dazu erläutert Hentrich, dass Karl Mingerzahn sich eine solche immer gewünscht hatte, die es aber so in Dingelstedt nicht gegeben habe.
Gemeinsamer Erfolg
Das Fazit von Martin Hentrich: „Die Handlung des ’Kirschenliesel’ spielt am Vorabend des ersten Blütenfestes in Dingelstedt, verwebt so die Realität des tatsächlichen Blütenfestes mit der Fiktion der Theateraufführung. Und vielleicht ist dies eine Erkenntnis des Bleibenden: Der eigene Erfolg wird durch eigenes, gemeinsames Tun erreicht. Dies galt damals und dies gilt auch heute. Denken wir dabei nur an die Aufführung von 'Max und Moritz' in Badersleben, den 'Räuber Daneil’ beim Blechbudenfest in Wilhelmshall oder das Räuber-Daneil-Puppenspiel in Dingelstedt, alles im Jahr 2015.“