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Doku-Film Der Herr der verlassenen Orte

Ein Leipziger hat es sich zur Aufgabe gemacht, vergessene und verlassene Orte im Harz wieder ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken.

Von Sandra Reulecke 17.06.2018, 09:04

Ballenstedt l Eine Sicherheitseinweisung, bevor das Flugzeug abhebt, ist nichts Ungewöhnliches. Aber vor einem Filmstart? Durchaus angebracht, wenn der Vorführraum seit Jahrzehnten dem Verfall preisgegeben ist. Es handelt sich um das alte Kino im Schulungszentrum Großer Ziegenberg in Ballenstedt, von zwei gegensätzlichen politischen Systemen – Nationalsozialismus und Sozialismus – als Kaderschmiede genutzt. Von der einstigen Pracht des Saals lässt sich angesichts der abblätternden Farbe und des bröckelnden Putzes nur noch wenig erahnen. Es riecht nach Moder, nach Vergänglichkeit. Die perfekte Kulisse für „Vergessen im Harz“.

So heißt eine Filmreihe, die Regisseur Enno Seifried initiiert hat. Im dritten Teil der Dokumentation nimmt er seine Zuschauer erneut mit zu „Lost Places“ (Verlassenen Orten), die im und um das nördlichste Mittelgebirge Deutschlands zu finden sind. Während manche abseits von Touristenpfaden vor sich hin modern, verfallen andere vor den Augen der Öffentlichkeit.

Das Hotel „Brauner Hirsch“ in Gernrode gehört zu letzteren. Seit 1991 steht es leer, der Regen bahnt sich den Weg vom defekten Dach durch mehrere Stockwerke hindurch bis in die Küche, hinein in längst aus gediente, überlaufende Töpfe und Abwaschbecken. Der einstige Prachtbau ist stark einsturzgefährdet, der Hof hat sich in einen Dschungel verwandelt. Ein Zeitzeuge tastet sich mit dem Kamerateam durch das Gebäude, erzählt Anekdoten aus seiner Kindheit, als er noch in dem zum Kino umgebauten Speisesaal mit den Leinwandhelden mitfieberte. Viel Hoffnung, dass sich zeitnah ein Käufer für den „Braunen Hirsch“ findet, habe er nicht, sagt der Gernröder.

Aber vielleicht gibt „Vergessen im Harz“ den Anstoß dazu, wie im Fall das Hotels „Rathaus“ in Altenau, dem ein ähnliches Schicksal wie dem Gernröder Gasthaus drohte. Es wurde im zweiten Teil der Dokumentation gezeigt und spielt nun auch im dritten eine Rolle. Denn: Mit Achim Kapelle hat sich ein Investor für das „Rathaus“ gefunden. Stolz berichtet er dem Filmteam über seine Pläne und die ersten Schritte der Sanierung, die bereits erfolgt sind.

Hoffnung gibt es auch für das Schloss Rammelburg (Mansfeld). Eine Interessengemeinschaft hat sich gegründet. Wie im Film berichtet wird, wird derzeit nach einem Nutzungskonzept für das imposante, historische Gebäude gesucht. Einst ein Herrschersitz, wurde es zu DDR-Zeiten als Kinderheim und Rehabilitationsklinik genutzt.

In einer anderen Sequenz erinnert sich Irmgard Hellerling an ihre Zeit als Kartenabreißerin im Schierker Kino. Dieses befand sich in der Burg, von der aus sie „wunderbare Sonnenuntergänge“ genossen habe. „Ich habe acht Jahre lang dort gelebt.“ Obwohl es kalt und zugig war – mit Teppichen verhängte sie im Winter die Fenster – erinnere sie sich gern an die Zeit. Besonders Musik-Filme habe sie gemocht – und Streifen mit Heinz Rühmann.

Andere Zeitzeugen berichten von ihrer Arbeit in dem nun geschlossenen Bergwerk „Drei Kronen und Ehrt“ nahe Elbingerode, von ihren Jobs in der Malzfabrik in Allstedt und anderen Betrieben in der Region. Der Fliegerhorst in Goslar – 1927 als Flugplatz eröffnet, später militärisch genutzt – ist ein weiteres Kapitel des Films. Ferienheime, die zu DDR-Zeiten der Gewerkschaft gehörten, werden in ihrem heutigen Zustand gefilmt und ein Zeitzeuge erinnert sich an die prägenden Wochen, die er im ehemaligen Kinderkrankenhaus in Bad Sachsa verlebt – und in schlechter Erinnerung behalten hat.

Es sind die Geschichten, die sich hinter den Mauern abgespielt haben, die ihn besonders interessieren, sagt Enno Seifried. „So unterschiedlich die Locations sind, so unterschiedlich sind auch die Zeitzeugen. Einige Geschichten sind sehr emotional“, erläutert der 39-Jährige.

Früher vor allem an Malerei interessiert, arbeitete der Leipziger zunächst als Bühnenbildgestalter oder Licht- und Tontechniker. Zudem komponiert er bis heute für Theater und Film. 2010 kam ihm dann die Idee, Dokumentarfilme zu drehen – ohne von der Förderung von Stiftungen und Ländern abhängig zu sein.

Für seine Filme – sechs sind es bislang – hat Seifried auf Crowdfunding gesetzt. Das ist eine Art Gruppenfinanzierung, zu der zum Beispiel auf Plattformen im Internet aufgerufen wird. Geldgeber erhalten für ihre finanzielle Unterstützung oft eine Gegenleistung – im Fall von „Vergessen im Harz“ waren das unter anderem Tickets für die Premieren des dritten Teils in Ballenstedt. Um diesen produzieren zu können, wurden mindestens 12.000 Euro benötigt. Das Ziel wurde mit 40.271,22 Euro zu 336 Prozent erfüllt.

Während der Dreharbeiten habe er den Harz sehr zu schätzen gelernt. „Man kann sich in den Harz verlieben“, sagt Seifried lachend. Erst als Erwachsener habe er die Region kennengelernt. Damals steckte er mitten in den Arbeiten zu einer dreiteiligen Dokumentation über verlassene Orte in Leipzig. Beim Wandern durch die Harzer Wälder sei ihm die Eingebung gekommen, das Konzept auch für diese Region anzuwenden. Der erste Teil von „Vergessen im Harz“ erschien 2015.

Obwohl er wisse, dass es mehr verlassene Orte im Harz gibt als die, die er vorgestellt hat, wird es keine Fortsetzung geben. „Mir gefällt das Wort Trilogie. Es klingt so vollständig“, sagt er und lacht. Nachdenklich ergänzt er, dass er befürchte, dass weiteren Teilen vielleicht der Tiefgang fehle. Die Geschichten weniger emotional ausfallen und dass Zuschauer nicht mehr – wie bei der jüngsten Premiere in Ballenstedt – mit minutenlangem Applaus reagieren könnten. Deshalb habe er seine filmische Reise zu vergessenen Harz- Orten nun beendet.