Weg aus der Stille Das erste Mal hören

Vladimir (3) wurde in Moskau taub geboren. Nach einer Operation in Halberstadt (Landkreis Harz) lernt er jetzt Hören.

Von Sandra Reulecke 12.08.2020, 04:00

Halberstadt l Wenn ihr Kind weint, bringt das seine Mutter normalerweise nicht zum Lächeln. Doch die Tränen von Vladimir sind für seine Mutter ein absoluter Grund zur Freude. Sie sind die Reaktion auf die ersten Töne, die der kleine Junge hört. Bisher war sein Leben von absoluter Stille geprägt. Er kennt weder die Stimme seiner Mutter, noch die seiner Geschwister. Er weiß nicht, wie ein Vogel zwitschert oder ein Hund bellt, wie sich eine Klingel anhört. Dass er all das kennenlernen kann, hat er einem Team des Halberstädter Ameos-Klinikums zu verdanken – und der Beharrlichkeit seiner Mutter Anastasia.

In seiner Heimat Moskau haben sich die Ärzte nicht getraut, dem Kleinkind ein Cochlea-Implantat (CI) einzusetzen, sagt Liubov Wdonik. Sie ist Koordinatorin bei der Lehnhardt-Stiftung. Diese hat sich der Förderung der Früherkennung, Früherfassung und Nachsorge einer möglichen Hörstörung bei Kindern verschrieben. Vladimirs Mutter habe nach der Absage der russischen Ärzte die Stiftung ausfindig gemacht und dort um Hilfe gebeten.

Die Stiftung kontaktierte Ärzte in Deutschland und kümmerte sich um die Finanzierung der Operation – zu der es beinahe nicht gekommen wäre. „Zweimal wurden die Flüge gestrichen“, berichtet Liubov Wdonik. Doch damit wollte sich Anastasia nicht geschlagen geben. Sie setzte Vladimir ins Auto und fuhr mit ihm innerhalb von 2,5 Tagen mehr als 2000 Kilometer durch Europa, von Moskau nach Halberstadt. Kein leichtes Unterfangen in Zeiten von Corona und verstärkten Grenzkontrollen, sagt die Stiftungsmitarbeiterin.

Doch im Fall von Vladimir ist Eile geboten. Die ersten Lebensjahre sind für die Entwicklung der Sprach-, Sprech- und Kommunikationsfertigkeiten besonders wichtig. Je älter Kinder sind, bis sie hören können, desto schwieriger ist es, in ihrer Entwicklung zu normal hörenden Kindern aufzuschließen, erläutert Stefan Wendt, Audiologe im Halberstädter Ameos-Klinikum. Das vollendete dritte Lebensjahr werde als Grenze angesehen: Dann schließt sich das Fenster für den Erwerb der sprachlichen Grundlagen.

Stefan Wendt war auch bei Vladimirs Operation dabei. „Ich habe Messungen vorgenommen und Impulse am Hörnerv getestet“, erläutert er. Wichtigstes Arbeitsgerät dafür ist ein Computer.

Der steht auch jetzt, wenige Tage nach der OP, vor ihm. Wenn er darauf Tasten drückt, werden Impulse via einer Elektrode weitergeleitet an das Implantat hinter Vladimirs rechtes Ohr. Diese Impulse entsprechen hohen und tiefen Tönen. „Wir tasten uns ganz langsam vor, um ihn nicht zu erschrecken“, sagt Wendt. Seit zehn Jahren macht er diesen Job. Die Reaktionen der Kinder auf die ersten Töne könne man in drei Kategorien einteilen: eine Art Schockstarre, Lachen oder Weinen. „Jede Reaktion ist gut, weil sie zeigt, dass das Implantat funktioniert“, sagt der Audiologe.

Dafür gebe es trotz geglückter OP und guter Testergebnisse im Vorfeld keine Garantie. „Wir wissen nicht, ob der Impuls auch tatsächlich im Hirn ankommt. Das kann man vorher nicht testen“, erläutert Wendt.

Der Fall von Vladimir sei ohnehin ein spezieller. Zwar wirkt er auf den ersten Blick wie ein normaler, aufgeweckter Dreijähriger: Ein Kuscheltier im Schlepptau, schaut er sich neugierig um, schenkt seiner Mutter ein Lächeln, bevor er sich den Bauklötzen auf dem Tisch vor ihm widmet. Doch der Eindruck täuscht. Der Junge ist schwer krank.

Unter seinem mit Sternen bedruckten Halstuch, auf Höhe des Kehlkopfes, verbirgt sich eine Trachealkanüle. Diese sorgt dafür, dass Atemluft direkt in Vladimirs Luftröhre geleitet wird. Regelmäßig muss Vladimirs Mutter mit einer kleinen elektrischen Pumpe Spucke aus dem Kunststoffschlauch absaugen.

Neun Mal ist der Junge bereits operiert worden, auch am Herzen, berichtet Liubov Wdonik. „Vladimir hat eine komplexe genetische Fehlbildung“, erläutert Dr. Wolfram Pethe. Die Ursache dafür sei schlicht und ergreifend Pech – so sind die beiden Geschwister des Jungen vollkommen gesund.

Auch die Ohr-Anatomie des Jungen sei fehlgebildet – beim linken mehr als beim rechten, ergänzt Stefan Wendt. Deshalb sei nur auf der rechten Seite ein Implantat eingesetzt worden. „Man kann auch mit nur einem hörenden Ohr sprechen lernen“, versichert der Audiologe.

Normalerweise, so sagt Wolfram Pethe, dauert eine solche Operation nicht mehr als zwei Stunden. „Mein Chef, der auch Vladimir operiert hat, schafft es noch schneller.“ Das Einsetzen des Implantats sei wie eine „Operation in einer Erbse“, da das Operationsfeld nur wenige Millimeter groß ist, und finde unter dem Mikroskop statt.

Laut Stefan Wendt finden 80 bis 100 solcher Eingriffe pro Jahr im Halberstädter Ameos-Klinikum statt. „Das ist viel“, erläutert er. In diesem Jahr wurden bereits 44 Innenohrprothesen eingesetzt. Keine dieser Operationen sei so schwierig gewesen wie bei Vladimir. Er könne sich an vielleicht eine Handvoll ähnlich komplizierter Fälle erinnern, so Pethe. „Und die kann ich namentlich aufzählen.“

Bei Vladimir sitze nichts an den üblichen Stellen. „Man kann sich das vorstellen wie bei einem Navigationsgerät, bei dem plötzlich alle Ortsbezeichnungen wegfallen“, erklärt der Chirurg. Immer wieder habe man die Operation unterbrechen müssen, um Aufnahmen vom Kopf des Jungen zu machen. Dafür unterstützten Kollegen aus der Radiologie das Operations-Team. Fünf Stunden lang dauerte der Eingriff – mehr als doppelt so lange wie üblich.

Die OP sei nur die Grundlage, betont Wolfram Pethe. Vor Vladimir liege noch ein langer Weg. Reha, regelmäßige Untersuchungen, Sprachtraining – die Nachsorge dauere ein Leben lang. „Eine halbe Millionen Euro – das rechnet man in Deutschland für die Versorgung für ein taubes Kind“, informiert der Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Die Kosten für das CI seien dabei vergleichsweise gering: das Implantat koste rund 14 500 Euro, für den Sprachprozessor schlagen weitere 8000 Euro zu Buche. Während letzterer immer mal wieder erneuert werden muss, bleibt das Implantat ein Leben lang im Körper.

„Die Kosten klingen erst einmal viel, aber man muss sehen, was die Alternative bedeuten würde“, gibt Wolfram Pethe zu bedenken. „Mit dem Implantat erhält das Kind die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben, darauf, sich anders zu entwickeln und zur Gesellschaft dazuzugehören.“ Das bedeute aber nicht, dass ein CI automatisch dafür sorgt, dass die Sprachentwicklung des Kindes dem eines Hörenden gleichen werde. „Das steht für uns nicht im Vordergrund.“ Die Stimulation des Hörzentrums im Gehirn sei aus anderen Gründen viel wichtiger, weil sich das auch auf andere Entwicklungen auswirke, wie auf das Laufenlernen. Hören zu können, sei Lebensqualität.