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Crime Börde Spektakuläre Kriminalfälle: Der Amokschütze aus Niederndodeleben

In der Serie „True Crime Börde“ blickt die Volksstimme zurück auf einige der größten Kriminalfälle im Landkreis Börde in den vergangenen Jahrzehnten. Teil 2 dreht sich um einen Amokschützen, der im Jahr 1980 in Niederndodeleben mehrere Menschen getötet hat.

Von Bernd Kaufholz 04.08.2023, 06:00
Der Täter Günter Helmers liegt tot auf dem Sofa seines Wohnzimmers. Nach dem Fünffachmord hat er sich erschossen.
Der Täter Günter Helmers liegt tot auf dem Sofa seines Wohnzimmers. Nach dem Fünffachmord hat er sich erschossen. Repro: Bernd Kaufholz

Niederndodeleben - Es ist Sonntag, 10. August 1980, gegen 22 Uhr: Das Ehepaar Eisler (Name geändert) sitzt in seinem Haus im Mühlenweg in Niederndodeleben vor dem Fernseher. Es klingelt zweimal an der Haustür. Otto Eisler geht zum Stubenfenster und ruft hinunter: „Wer ist denn da?“ Als er keine Antwort bekommt, wechselt er zum Schlafzimmerfenster: „Hallo, wer ist da?“ Als wieder niemand antwortet, geht er ins Parterre, von dort durch Hoftor in Richtung Gartentür.

Wenig später hört Annemarie Eisler Lärm. Ihre Nachbarin stürmt die Treppe herauf, ruft: „Komm schnell, Otto liegt da unten! Komm schnell!“ Annemarie Eisler glaubt, ihr Ehemann sei „umgefallen“, wie es schon einige Male passiert ist. „Na, was ist denn?“, fragt sie dann auch, als sie vor dem 44-Jährigen steht, der am Boden liegt. Dann erst sieht sie, dass ihr Mann blutet. Später erinnert sie sich, dass ein roter Skoda wegfuhr.

Zwölfjährige hört den Schuss

Im Nachbarhaus hat eine Zwölfjährige den Schuss gehört. Sie läuft zu den Eltern und ruft: „Auf der Straße hat einer geschossen. Ich habe aus dem Fenster einen Mann mit Gewehr gesehen. Er ist in ein rötliches Auto gestiegen.“

Rudolf Semper (Name geändert) denkt, dass seine Tochter „spinnt“, wie er einige Stunden nach der Tat zu Protokoll gibt. Er schaut auf die Uhr. Es ist 22.08 Uhr. Als er auf die Straße geht, sieht er rechts neben dem Hoftor seinen Nachbarn Otto Eisler liegen, der aus der Brust blutet. „Er wollte noch etwas sagen, bewegte die Lippen. Aber er schaffte es nicht mehr.“ Otto Eisler stirbt.

Mit dem Fahrrad fährt Rudolf Semper zum Abschnittsbevollmächtigten (ABV) der Volkspolizei. Dort meldet schon eine andere Dorfbewohnerin den Vorfall.

Mit quietschenden Reifen fährt der Täter davon

Ein paar Minuten später am anderen Ende des Ortes: Bei Familie Kollert (Name geändert) in der Thälmannstraße wird ans Parterrefenster geklopft. Bärbel Kollert schaut aus dem Fenster des Obergeschosses. Unten fragt eine Stimme: „Ist der Klaus da?“ „Er wollte das Auto zur Garage bringen und dann noch auf ein Bier“, antwortet die 28-Jährige. Dabei sieht sie einen Skoda an der Einfahrt stehen. Im selben Augenblick kommt Klaus Kollert nach Hause. Der Automechaniker sieht den Skoda ebenfalls und denkt, dass jemand mit dem Wagen liegen geblieben sei und seine Hilfe brauche.

Bärbel Kollert hört einen Schuss, sieht einen Unbekannten zum Skoda rennen und das Auto mit quietschenden Reifen davonfahren. Im diffusen Licht der Straßenlaterne erkennt sie, wie ihr Ehemann einige unsichere Schritte macht und dann auf der gegenüberliegenden Straßenseite ins Gras fällt. Er wird schwer verletzt.

Tatortarbeit beginnt mitten in der Nacht

Um 23.13 Uhr meldet ABV Oberleutnant Scheel der Bezirkspolizei in Magdeburg die Vorfälle in Niederndodeleben. Der Kripo-Chef alarmiert daraufhin Morduntersuchungskommission, Kripo-Einsatzgruppe und Volkspolizeikreisamt Wolmirstedt.

Knapp zwei Stunden später beginnt im Mühlenweg die Tatortarbeit. Experten für Abdrücke sichern fünf Reifenspuren – drei werden fotografiert, zwei mit Gips ausgegossen. Ein Projektil wird am Tatort nicht gefunden.

Eine Rechtsmedizinerin untersucht den toten Otto Eisler. Sie stellt bei dem Mann vier Zentimeter unter der linken Brustwarze ein großes rundes Loch fest. Im Obduktionsbericht heißt es: „Bruststeckschuss im Herzbereich“.

Es gibt nur ein Auto im Ort, auf das die Beschreibung passt

Klaus Kollert ringt seit der Nacht im Kreiskrankenhaus Wolmirstedt mit dem Tod. Die Gewehrkugel war im linken Bereich des Oberbauchs eingedrungen, hatte Milz und Leber verletzt und war unter der zwölften Rippe wieder ausgetreten. An eine Vernehmung des 34-Jährigen ist nicht zu denken.

Dafür werden Nachbarn und Verwandte der Opfer befragt. Schon bald haben die Ermittler einen ersten Verdacht. Grund dafür ist der rote Skoda, der von mehreren Zeugen gesehen wurde. Hinzu kommt, dass sich Bärbel Kollert an den ersten Buchstaben des Autokennzeichens erinnert – ein M.

Es dauert nicht lange, da wissen die Ermittler, dass es nur einen roten Skoda im Dorf gibt, auch der Anfangsbuchstabe des Nummernschildes passt. Das Auto gehört Günter Hellmers (Name geändert), der mit Ehefrau Helga und Tochter Marion in der Wellener Straße lebt. Der 37-Jährige war, bis er kündigte, als Meister im Straßentiefbaukombinat Magdeburg, Betriebsteil Niederndodeleben, beschäftigt. Beide Opfer sind ehemalige Arbeitskollegen.

Sieben Schützenpanzer fahren zur Sicherheit auf

Der Polizeichef des Bezirks Magdeburg ordnet den Einsatz einer Führungsgruppe unter Leitung des Stabschefs der Bezirkspolizeibehörde an. Eine Schützenpanzerwagen-Kompanie der Bereitschaftspolizei, weitere Kriminalisten und Kriminaltechniker, Fährten- und Diensthunde werden eingesetzt. Hauptquartier ist der Rat der Gemeinde.

Sieben Schützenpanzer postieren sich im Nordwesten der Gemeinde um das Grundstück der Familie. Wohnhaus, Werkstatt, Schuppen, Garten, Doppelgarage – all das macht einen friedlichen Eindruck.

Polizisten in schusssicheren Westen klingeln. Niemand öffnet. Tür und Fenster werden aufgebrochen. Niemand scheint zu Hause zu sein. Auf dem Küchentisch liegt ein Blatt Papier. Der Schreibbogen mit der Überschrift „Geständnis“ lässt Schlimmes ahnen: „Meine Frau war heute hinter mein Verhältnis mit anderen Frauen gekommen... Mit einem Holzhammer wollte sie mir eins über den Schädel hauen. Da ich sowieso schlecht schlafen kann, bemerkte ich das und riss ihn ihr aus der Hand und schlug zu. Sie wehrte sich noch und ich musste zudrücken. Es war grauenvoll. Meine Tochter hörte Lärm und kam dann dazu. Sie hatte keine Mutter mehr. Es tut mir ja so leid. Ich werde mich erschießen. Gruß Hellmers“

Ehefrau und Tochter werden erwürgt

Die Polizisten gehen die Treppe hinauf. Als sie die Schlafzimmertür öffnen, sehen sie eine Frau im Bett liegen – zugedeckt bis zum Kinn. Neben ihrer rechten Kopfseite ist das Laken blutdurchtränkt. Die Tote mit den goldenen Ohrsteckern und den roten Steinen darauf ist Helga Hellmers (Name geändert), die Ehefrau des Gesuchten.

Wenige Sekunden später findet die Kripo im Haus noch eine Leiche. Ein Mädchen liegt im Kinderzimmer unter einer bunten Decke. Es ist Marion (Name geändert), die Tochter. Rechtsmediziner stellen fest, dass die 13-Jährige erwürgt wurde.

Ihre 33-jährige Mutter hat wahrscheinlich mit einem Holzhammer einen harten Schlag an die rechte Kopfhälfte erhalten. Davon zeugt die fast vier Zentimeter lange Wunde bis auf den Schädelknochen. Wahrscheinlich war die Frau nach dem Schlag handlungsunfähig. Hinweise auf die Todesursache geben ausgedehnte Würgemale an der Halsvorderseite.

Der Amoklauf ist noch nicht zu Ende

Der Tatverdächtige wird nicht in seinem Haus angetroffen, die Fahndung läuft. Die Ermittler vermuten, dass sich Hellmers noch in Niederndodeleben aufhält. Auf dem Grundstück seiner Schwiegermutter hat der selbstständige Handwerker seit wenigen Tagen Gewerberäume.

Vor dem einzeln stehenden Haus steht der rote Skoda. Alle Türen sind verschlossen, auch die Fensterläden. Die Kriminalisten stellen fest, dass der Schlüssel zur Eingangstür von innen steckt. „Verlassen Sie das Grundstück“, lautet die Aufforderung aus dem Lautsprecherwagen der Polizei. Doch nichts tut sich.

Spezialkräfte verschaffen sich um 7.25 Uhr Zugang zum Haus. Sie finden zwei Tote im Hausflur. Neben der Holztreppe zur oberen Etage liegt mit dem Kopf an der Eingangstür Else Meyer (Name geändert). Die Großmutter von Helga Hellmers wurde erschossen.

Gisela Grüne (Name geändert), Helga Hellmers Mutter, liegt nur knapp zwei Meter weiter an der linken Flurwand. Auch die 55-Jährige starb durch einen Schuss. Und noch einen Toten findet die Kripo im Haus. Es ist Günter Hellmers. Der 37-Jährige ist im Wohnzimmer auf dem Sofa zusammengesunken. Sein Kopf mit der Verletzung zeigt in Richtung Nachtspeicherofen. Bei der Obduktion wird aufgrund der sternenförmigen Platzwunde um das Einschussloch an der Stirn ein „absoluter Nahschuss“ festgestellt – es war Selbstmord.

Waffen beim Ausbau der Räume gefunden

Zwischen den Beinen des Toten liegt ein Kleinkalibergewehr. Auf dem Tisch in der Stubenmitte finden die Ermittler neben dem Kolben des Gewehrs, einer Pistole und Patronen auch ein Blatt Papier, auf dem Hellmers bedauert, zwei weitere ehemalige Arbeitskollegen „nicht erwischt“ zu haben.

Die Polizei geht davon aus, dass Günter Hellmers beim Ausbau seiner Gewerberäume auf dem Grundstück seiner Schwiegermutter das Gewehr und die Pistole gefunden habe. Der Verdacht erhärtet sich Wochen später. Denn bei Aufräumarbeiten im Haus werden in einem verschlossenen Raum hinter der Toilette weitere Patronen gefunden. Die Auswertung der Reifenabdrücke ergibt eine Übereinstimmung mit den Reifen des roten Skoda. Zudem bestätigt ein Schriftsachverständiger eine Übereinstimmung des Geständnisses mit dem Gewerbeantrag von Günter Hellmers.

Beim Tatmotiv helfen nur Indizien

Beim Tatmotiv kann sich die Kripo nur auf Indizien stützen. So gab es mit den fünf Kollegen, mit denen Hellmers bis zum 30. Juni 1980 unmittelbar zusammengearbeitet hatte, Differenzen. Der Meister fühlte sich von ihnen hintergangen und verhöhnt. Er belauschte sie argwöhnisch und notierte akribisch mit Namen und Datum die Äußerungen seiner Kollegen in einem Notizheft: „ist kaputt im Kopf“, „Kasper“, „der ist durchgedreht“, „läuft zum Gespött der Leute rum“, „das ganze Dorf lacht über ihn“.

Besonders in den Wochen vor der Tat habe der 37-Jährige „keinen Spaß mehr verstanden“, gibt auch der Bruder zu Protokoll. „Er war aufbrausend und empfindsam – aber nicht gewalttätig.“ Ein weiterer Zeuge sagt aus, dass sich Hellmers „seit Juli 1980 völlig unnormal benommen“ habe, niemanden mehr grüßte und wie abwesend war.

Bernd Kaufholz ist Volksstimme-Journalist und Buchautor. Neun Bücher über historische Verbechen hat er seit 1999 geschrieben. „Der Amokschütze aus der Börde“ ist  im Buch „Die Rohrleiche von Graben 13“ zu finden, erstmals erschienen im Mitteldeutschen Verlag.
Bernd Kaufholz ist Volksstimme-Journalist und Buchautor. Neun Bücher über historische Verbechen hat er seit 1999 geschrieben. „Der Amokschütze aus der Börde“ ist im Buch „Die Rohrleiche von Graben 13“ zu finden, erstmals erschienen im Mitteldeutschen Verlag.
Foto: Vivian Hömke

In einem rückschauenden Gutachten der Nervenklinik der Medizinischen Akademie Magdeburg heißt es, Hellmers habe sich „abgekapselt“. Der Druck durch vermeintlich üble Nachrede, Missgunst und Zurücksetzung haben „wahnhafte Züge“ angenommen. Der Höhepunkt sei die aggressive Abreaktion durch eine „Strafaktion“ gewesen.