Eltern wussten ihren Sohn bestens an der Wuster Schule aufgehoben Trotz Behinderung meistert Florian Ziehm die Grundschule und wechselt nun ans Gymnasium
Zu den Wustern, die heute mit dem Zeugnis der 4. Klasse aus der Grundschule verabschiedet werden, gehört Florian Ziehm. Dass der Elfjährige Einsen und Zweien schreibt, ist den Ärzten, seinem eisernen Willen, dem Durchsetzungsvermögen seiner Eltern und verständnisvollen Lehrern zu verdanken.
Sydow/Wust l Denn Florian ist körperbehindert. Während seine Eltern Susann und Ringo Ziehm heute zufrieden mit den Fortschritten ihres Jungen sind und zuversichtlich in die Zukunft blicken, sah das 2006 ganz anderes aus.
Florian, gerade sechs Jahre alt geworden und ein aufgeweckter Junge, freut sich schon auf die 1. Klasse, auf Zuckertüte und Ranzen. Doch gesundheitlich stimmt mit ihm etwas nicht, er hat Kopfschmerzen, Gleichgewichtsstörungen, fällt hin. Im Krankenhaus die schreckliche Diagnose: Hirntumor. Schlagartig ändert sich das Leben der Familie. Hoffen und Bangen, Operationen, Krankenhausaufenthalte, Reha. Und immer die sorgenvolle Frage: Welche Folgen hat die Operation an der Greifswalder Uniklinik im November 2006 an einer Stelle im Gehirn, die nur schwer erreichbar ist?
Florians rechte Körperhälfte ist nach dem Eingriff, bei dem nicht das gesamte Geschwür entfernt werden kann, gelähmt. Eine Tatsache, auf die die Ärzte die Eltern vorbereitet hatten. Aber es hätte auch schlimmer kommen können. Mühsam lernt der Junge, wieder zu sprechen und zu essen. Doch er bleibt auf den Rollstuhl angewiesen. Florian lässt sich nicht unterkriegen und hat den eisernen Willen, zusammen mit seinen Kindergartenfreunden zur Schule zu kommen. Seine Eltern wollen ihm diesen Herzenswunsch erfüllen und setzen alle Hebel in Bewegung. Letztendlich wird ein Zivildienstleistender über die AWO Krankenhaus Betriebsgesellschaft mbH gestellt, der Florian durch den Schulalltag begleiten kann. Schulleiterin Sigrid Reumann besucht Flori während der Reha, macht sich ein Bild von dem Kind, das Schüler werden möchte. Auch wenn es in einem Altbau wie dem Wuster Katte-Herrenhaus nicht leicht ist, den Rollstuhl zu buxieren, stimmt sie zu. "In all den Jahren gab es keine Probleme, jedes Problem wurde unkompliziert gelöst, das war eine große Erleichterung für uns", sind die Eltern den Lehrern sehr dankbar. Was niemand zu hoffen gewagt hat: Florian mausert sich zu einem guten Schüler! Anfangs etwas schüchtern, machen es ihm seine Freunde leicht, in die Klasse integriert zu werden. Florian gehört dazu. Der Zivi packt die Mappe ein und aus, schiebt den Rollstuhl, ist immer an seiner Seite. Am Ende sind es fünf junge Männer, die ihren Zivildienst für Florian leisten, einige entscheiden sich danach, beruflich mit Behinderten zu arbeiten.
Die 2. Klasse muss Florian wiederholen. Aber nicht wegen schlechter Noten, sondern weil er wegen einer Hüftoperation als Folge der Lähmung operiert wird und lange im Krankenhaus und zur Reha ist. Nach drei Jahren die Hiobsbotschaft: Es gibt keine Zivi-Stelle mehr. Aber ohne Begleitung kann Florian nicht zur Schule, müsste in eine Behinderteneinrichtung. "Wie sollten wir ihm das erklären?", erinnert sich der Vater an eine nervenaufreibende Zeit. Wieder ist es der Hartnäckigkeit der Eltern zu verdanken, dass über ein Bildungsbudget, beantragt beim Sozialamt des Landkreises Stendal, ein Arbeitsplatz geschaffen wird. Jürgen Bastek aus Wust freut sich, dass er diese verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen und Florian in der 3. und 4. Klasse beistehen kann. So kann Flori selbst auf Klassenfahrten dabei sein. Und beim Elternabend bekommen die beiden für ihre Sketche viel Applaus.
Wenn Florian ab September am Stendaler Winkelmann-Gymnasium lernt, gibt es eine neue Begleitperson. Auch hier müssen Ziehms derzeit noch darum kämpfen, dass sie den Jungen auf dem Schulweg begleiten kann. Die Suche nach einer passenden Schule machten Ziehms sich nicht leicht. Alles kam infrage - von Förderschule bis Gymnasium. "Wir wollten, dass Florian weiterhin mit Nichtbehinderten aufwächst. Wie gut ihm das tut, haben die Jahre in Wust gezeigt. Deshalb kam eine Schule für Körperbehinderte auch nicht in Frage. Aber es musste eine behindertengerechte Einrichtung sein. Denn Florian ist nach wie vor die meiste Zeit auf den Rollstuhl angewiesen", berichtet Ringo Ziehm. Eine Besichtigung führte auch nach Stendal. Das Winkelmann-Gymnasium verfügt über einen Fahrstuhl, und die Lehrer haben Erfahrungen mit Behinderten, ist Florian doch nicht der erste, der körperlich beeinträchtigt ist. Mit dem Besuch des Gymnasiums wollen Ziehms ihrem Sohn die bestmöglichen Voraussetzungen für einen Weg in eine selbstbestimmte Zukunft ebnen.
"Ich würde mir wünschen, das so manche Behördenangelegenheit nicht so kompliziert wäre. Auf beinahe jeden Antrag habe ich erst einmal eine Ablehnung bekommen. Erst Widersprüche und sogar Hilfe von Anwälten waren in manchen Fällen nötig, bis wir das bekamen, was Florian zusteht", erklärt Ringo Ziehm. Er hatte sich gerade erst mit seinem Handwerksbetrieb selbstständig gemacht, als sein Sohn erkrankte. Auch seine Frau ist berufstätig - keiner konnte seine Arbeit aufgeben. Denn Therapien und Hilfsmittel werden zwar zum größten Teil bezahlt, aber eben nicht alles, was Florian für eine optimale Entwicklung braucht.
Ziehms wissen, dass es an der neuen großen Schule nicht leichter wird. Zum anspruchsvolleren Unterricht kommt der längere Fahrweg dazu. Und nach wie vor muss Florian Therapien machen, um seine Motorik weiter zu verbessern. "Wir haben bisher beispielsweise in Frau Hannemann von der AWO, den Wuster Lehrerinnen und der Schulleiterin und auch den ein oder anderen Entscheidungsträgern und auch in Ärzten immer wieder in Menschen gefunden, die uns beistehen und Mut machen. Das ist hoffentlich auch in Zukunft so." Unverzichtbar sei auch Oma Inge gewesen. Wenn die Zivis beispielsweise wechselten und für zwei, drei Wochen keine Betreuungsperson da war, ist sie eingesprungen, "nur so war es uns möglich, überhaupt weiterzuarbeiten", erklärt ein dankbarer Ringo Ziehm. Nichts kann ihm, seiner Frau und auch Floris großer Schwester mehr Freude bereiten, als heute zu sehen, wenn die Kumpels zu Flori zum Spielen kommen oder sie ihn abholen und er wie selbstverständlich ruft "zum Abendbrot bin ich wieder zu Hause".
Wenn die Wuster Kinder heute ihr Zeugnis bekommen, schwingt bei Ziehms auch ein wenig Wehmut mit. Sie wussten ihren Sohn bestens an dieser kleinen Schule aufgehoben, die - weil es der Landesregierung nur um Zahlen geht - um ihre Zukunft bangen muss.
Einmal im Jahr wird an der Greifswalder Uni untersucht, ob und wieweit der Tumor wächst. Bei der letzten Kontrolle im Mai haben die Ärzte Entwarnung gegeben. Eine Riesenlast, die Ziehms von den Schultern fällt. Sie hoffen, dass der Schulwechsel gut klappt und Florian auch als Gymnasist so gute Fortschritte macht.