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Artensterben Gefährdet, verschollen, erloschen

Auch in der Altmark gibt es ein Artensterben. Aus verschiedenen Gründen.

Von Folker Rattey 14.02.2019, 10:00

Altmark l Über den Rückgang der Artenvielfalt werden wir regelmäßig durch die Massenmedien unterrichtet. Das ist kein neues Phänomen. Täglich sterben weltweit etwa 100 Arten aus. Anfang Dezember 2018 war in der Volksstimme zu lesen, dass fast ein Drittel der Wildpflanzen in Deutschland vom Aussterben bedroht sind. Diese Angaben treffen auch für das Land Sachsen-Anhalt zu.

Was haben derartige Nachrichten zu bedeuten? Welche Auswirkungen haben sie für die menschliche Gesellschaft?

Es gab schon fünf große Massensterben in der Evolution der Organismen. Das sechste aktuelle Artensterben hat aber eine neue Qualität. Neu ist, dass der Artentod in viel kürzerer Zeit stattfindet und der Mensch zu diesem vernichtenden Evolutionsfaktor geworden ist. Dieses Artensterben findet auch bei uns in der Altmark statt. Man spricht dann auch gerne vom regionalen Artentod. Folgende Arten sind beispielsweise in den vergangenen 50 Jahren für unsere Region ausgestorben: Sumpf-Läusekraut, Lunge-Enzian, Wiesen-Küchenschelle, Sumpf-Herzblatt, Krähenfuß-Wegerich, Sumpf-Sitter, Weiße Waldhyazinthe und Steifblättrige Kuckucksblume.

Ich möchte nun den Artenrückgang für das Grünland, also die Wiesen und Weiden, näher beleuchten. Verantwortlich dafür ist hauptsächlich die industrielle Landwirtschaft, die Massentierhaltung, der Anbau von Monokulturen, der Pestizideinsatz und die intensive Düngung. Entwässerung und Umbruch haben die ursprünglichen Naturräume verändert beziehungsweise vernichtet und für viele Arten die Existenzbedingungen zerstört. Das ist die schlimmste Form der Umweltzerstörung auf unserem Planeten. Leider ist auch die Tier- und Pflanzenwelt in unserer Umgebung davon betroffen. Das empfindet vielleicht nicht jeder. Der aufmerksame Naturfreund aber bestimmt. Ich bin über 40 Jahre in Beetzendorf als Biologielehrer tätig gewesen und habe mich viele Jahrzehnte hindurch mit den Veränderungen in der Natur der nordwestlichen Altmark beschäftigt. Daher glaube ich, dass ich das Seltenerwerden von Arten in unserer altmärkischen Heimat recht gut beurteilen kann und möchte im Folgenden dazu Stellung nehmen.

Mich erschüttert und ängstigt der Rückgang der Artenvielfalt (Biodiversität). Das hat zwei Gründe. Einmal wissen wir, dass die Artenvielfalt die Grundlage für das biologische Gleichgewicht und damit für die ökologische Stabilität eines Ökosystems ist. Jede Art hat eine bestimmte Funktion und ist auch für andere Arten wichtig. Mit dem Verlust nur einer Pflanzenart sind zwölf bis 13 pflanzenfressende Tierarten existenziell gefährdet. Es kommt zu sogenannten Aussterbekaskaden, ein kompliziertes zwischenartliches Beziehungsgefüge geht verloren, und damit die Ausgeglichenheit der Arten untereinander. Zum anderen ist der unwiederbringliche Verlust von Tier- und Pflanzenarten in unserer Landschaft mit einem enormen Erlebnisverlust für uns Menschen verbunden. Was das emotional-ästhetisch bedeutet, ist nur schwer einzuschätzen.

Das kann natürlich nur der so richtig ermessen, der den Artenreichtum auf unseren Wiesen und in unseren Wäldern noch erleben konnte. Ich gehöre zu der Generation, die sich noch lebhaft daran erinnern kann. So an ein artenreiches Flachmoor bei Salzwedel, in dem alleine vier Orchideenarten und weitere seltene Moorpflanzen wie Sumpfherzblatt, Fieberklee, Natternzunge und Schlangenknöterich nachzuweisen waren. Es war mir noch möglich, in den 50er und 60er Jahren sechs Orchideenarten zu finden und zu fotografieren, die heute für unsere Region als ausgestorben gelten.

Ich kann mich noch an die bunte Vielfalt der Wiesen im Jeetzetal zwischen Salzwedel und Beetzendorf erinnern. Fuhr man mit dem Zug im Mai durch dieses Gebiet, hatte man fast das Gefühl, stellenweise an einer Schaupflanzung vorbeizufahren. Die Wiesen waren in ein zartes Rot gehüllt, aus dem die großen Blütenstände der Breitblättrigen Kuckucksblumen herausragten. Für mich ein unvergesslicher Anblick.

Diese artenreichen Blumenwiesen gibt es nicht mehr. Die Produktionsmethoden der modernen Landwirtschaft ließen schon vor Jahrzehnten monotones Intensivgrünland entstehen. Aus der bunten Vielfalt wurde ein Einheitsgrün. Die Buntheit des Landschaftsbildes ist Vergangenheit. Natürlicherweise litten unter diesen Veränderungen auch Insekten und Kleinvögel. So wurden blütenbesuchende oder besser gesagt blütensuchende Schmetterlinge und Kleinvögel des offenen Geländes immer seltener und gehören zu den gefährdeten Arten oder sind gar nicht mehr vorhanden.

Auch für größere Charaktervögel des Dauergrünlandes gingen die Lebensbedingungen verloren. Früher waren beispielsweise Kiebitze zur Brutzeit häufig zu beobachten. Man konnte sich an ihren akrobatischen Balzflügen erfreuen. Nicht selten fand man auch ein Gelege. Schon im März erklang die melodische Balzstrophe des Großen Brachvogels. Dann war einem klar, der Frühling naht. Der klangvolle Flötenruf des Brachvogels und der zweisilbige nasale Ruf vom Kiebitz („kie-wit“) gehörten für mich zum Markenzeichen unserer altmärkischen Frühlingswiesen. Diese Melodie des Frühlings ist weitgehend verstummt. Nur noch selten findet man den Kiebitz als Brutvogel. Die letzten Brachvögel sind aus vielen Grünlandbereichen schon vor Jahren verschwunden. Auch die Uferschnepfen, diese imposanten Großschnepfen, sind seit Mitte der 70er Jahre nicht mehr als Brutvögel auf unseren Wiesen nachweisbar.

Es gibt auf den intensiv bewirtschafteten Wiesen einfach keine Möglichkeit, erfolgreich zu brüten und die Jungvögel groß zu ziehen. Es wird gewalzt und geschleppt. Schon im Februar versprühen die Güllewagen ihre stinkende Fracht. Oft wird im April das erste Mal gemäht. Vogelgelege werden plattgewalzt. Jungvögel geschreddert. Der Frühling ist kaum noch spürbar. Monotonen grünen Flächen fehlt das Leben früherer Jahre. Es ist beängstigend still geworden.

Ich denke wehmütig an das vielstimmige Konzert der Wiesenvögel und die blumenreichen Grasflächen zurück. Was für ein beglückendes Gefühl, das noch erlebt zu haben. Was für ein bedrückendes Gefühl, das nicht mehr erleben zu können. Wer das nicht erlebt hat, kann auch nicht ermessen, was uns verloren gegangen ist. Es ist ein stiller und drastischer Verlust, der vor unserer Haustür stattfindet. Wir sind ärmer geworden. Es ist ethisch auch hochbedenklich, wie wir mit unserer Natur umgehen. Wir sollten die Vielfalt der natürlichen Umwelt als kulturelles Erbe verstehen, dem wir moralisch verpflichtet sind. Jede erloschene Art klagt uns an, und kommende Generationen werden fragen, wie wir das zulassen konnten.

Die industrielle Landwirtschaft ist zum Totengräber der biologischen Vielfalt geworden. Unsere vielfältige altmärkische Landschaft ist großflächig zu einer artenarmen Kultursteppe verkommen. Ein Umdenken ist erforderlich. Wir brauchen eine Wende in der Agrarpolitik und müssen uns um eine umweltverträglichere Politik bemühen.