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Interview mit Dr. Klaus Retzlaff / Themenabend zur Dyskalkulie am 24. Oktober in der Klötzer Sekundarschule Rechenschwäche - erkennen, verstehen und helfen

Von Meike Schulze 15.10.2012, 03:23

"Rechenschwäche - erkennen, verstehen und helfen", ist der Titel des Themenabends, zu dem für Mittwoch, 24. Oktober, ab 19 Uhr in die Aula der Dr.-Salvador-Allende-Sekundarschule eingeladen wird. Für die Volksstimme sprach Meike Schulze mit dem Referenten und Leiter des Zentrums zur Therapie der Rechenschwäche (ZTR), Dr. Klaus Retzlaff.

Volksstimme: An wen richtet sich der Themenabend?

Dr. Retzlaff: An jeden, der sich angesprochen fühlt. An Eltern von Vorschulkindern, Grundschülern und älteren Kindern genauso wie an Erzieher im Kindergarten und Lehrer.

Volksstimme: Seit Jahren ist davon zu hören, dass Schüler nicht ausbildungsreif sind, da ihnen fundierte mathematische Fähigkeiten fehlen, und dass die Zahl der Kinder steigt, die mit Mathematik Probleme haben. Ist das nur eine subjektive Wahrnehmung?

Dr. Retzlaff: Nein, sicher nicht. Es gibt relativ viele betroffene Kinder. Zum Beispiel sind in den Pisa-Studien die 15-Jährigen untersucht worden. Da stellte sich heraus, dass es eine Risikogruppe von 25Prozent der Schüler gibt, die die Grundschulmathematik nicht beherrschen. Vor dem Hintergrund muss man sagen, dass diese Jugendlichen dann auch nicht berufsfähig sind, was dann natürlich etliche Folgeprobleme in vielerlei Hinsicht hat. Der eine kann durch die bestehende Dyskalkulie, also Rechenschwäche, bestimmte berufliche Anforderungen nicht erfüllen und für die Unternehmen nicht zur Verfügung stehen. Bedeutsam ist auch, dass die Betroffenen ihr Leben nicht richtig in die Hand nehmen können. Das geht schon bei ganz einfachen Dingen los, wie dem Einkaufen oder bei der Kontoführung und Bankgeschäften. Das ist ein ziemlich umfassendes Thema.

Volksstimme: Ab wann ist denn zu erkennen, dass ein Kind eine Rechenschwäche hat oder entwickelt?

Dr. Retzlaff: Das kann man schon relativ frühzeitig erkennen, bereits im Vorfeld des Schulbeginns treten bestimmte Dispositionen zu Tage. Zum Beispiel, wenn die Kinder eine Abneigung gegen Zahlen haben oder Anweisungen hinsichtlich kleiner Mengen auf Anschauungsebene bis sechs nicht verstehen. Dieser Zahlenraum sollte schon überblickt werden, bevor man in die Schule kommt. Ein Beispiel: Bei Papa liegen sechs Bonbons und beim Kind vier, das Kind sollte dann erkennen können, wie viele Bonbons der Vater mehr hat. Wenn dann als Antwort kommt, ich habe vier weniger und Papa sechs mehr, ist das natürlich falsch und ein Zeichen dafür, dass bestimmte Begriffsbildungen noch nicht ausreichend entwickelt sind. Auch wenn ein Kind im Vorschulalter nicht erkennt, dass ein Dreieck drei Ecken hat und ein Viereck vier Ecken oder die Punkte auf dem Würfel abgezählt werden, kann man von pränumerischen Defiziten ausgehen. Ab dem zweiten Halbjahr in der ersten Klasse sollten Kinder dann auch nicht mehr - zum Beispiel an den Fingern - nachzählen müssen.

Volksstimme: Dann könnte man ja frühzeitig eingreifen und einer negativen schulischen Entwicklung entgegen wirken, oder?

Dr. Retzlaff: Ja auf jeden Fall. In sofern zielt der Themenabend in diese Richtung. Wir wollen die Symptome aufzeigen, denn die sind bisher nicht sehr bekannt, weshalb auch die Rechenschwächen häufig lange unerkannt bleiben. Das sieht man in den Zeugnissen zwar, dass die Lehrer beispielsweise schreiben: "Das Kind hat den Zahlenraum bis 20 erfasst, aber es rechnet noch mit Hilfsmitteln." Genau das ist aber ein Zeichen dafür, dass der Zahlenraum nicht erfasst wurde. Oder es steht drin, dass das Rechnen ungewöhnlich lange dauert oder das Kind immer noch die Finger braucht. Dabei ist das zählende Rechnen ein typisches Symptom für Dyskalkulie oder wenn offensichtliche Fehler vom Kind nicht erkannt werden - bei Aufgaben, bei denen sich jegliches Rechnen erübrigt, wie 20 minus 19.

Volksstimme: Und warum erkennen rechenschwache Kinder nicht sofort, dass das Ergebnis 1 ist?

Dr. Retzlaff: Diese Kinder bewerten die Zahlen gar nicht nach ihrer quantitativen Größe und Beziehung, sondern Zahlen sind für sie einfach nur Ziffern, mit denen man irgendwelche geheimnisvollen Umwandlungen macht, und dann kriegt man irgendein Ergebnis. Die Kinder wissen gar nicht, warum das so ist und womit sie es da eigentlich zu tun haben. Das ist ein grundlegendes Problem.

Volksstimme: Die Dyskalkulie ist eine von der Weltgesundheitsorganisation anerkannte Störung der schulischen Fertigkeiten in der Mathematik. Haben die Kinder auch andere Beeinträchtigungen?

Dr. Retzlaff: Meistens nicht. Es handelt sich um normalintelligente Kinder und keineswegs um lernbehinderte Kinder. Es ist aber durchaus möglich, dass andere Beeinträchtigungen Dyskalkulien begünstigen, beispielsweise AD(H)S, Probleme im Hören (Tubenventilationsprobleme), Schulangst. Weshalb sie auch nicht auf eine Lernbehindertenschule gehören. Es ist gerade das Phänomen, dass Kinder die einen intakten Geist haben, trotzdem in Mathematik den Eindruck machen, als ginge da verstandesmäßig gar nichts. Dieses darzulegen und auch die Hilfemöglichkeiten, die es für die Betroffenen gibt, wollen wir bekannt machen. Allerdings: Wenn die Rechenschwäche nicht festgestellt wird, kann das bei machen Kindern auch zu einer seelischen Behinderung führen.

Volksstimme: Und wie kann den Kindern geholfen werden?

Dr. Retzlaff: Es gibt da spezielle, immer individuell auf das Kind abgestimmte Diagnose- und Therapiemöglichkeiten. Unsere Einrichtung, also das ZTR, arbeitet diesbezüglich mit Schulen, Jugendämtern und Berufsbildungsträgern zusammen. Außerdem gibt es Forschungskooperationen und Kooperationen in Sachen Fort- und Ausbildung der Lehrer und Therapeuten.

Volksstimme: Bis zu welchem Alter ist Rechenschwäche therapierbar?

Dr. Retzlaff: Meine älteste Klientin war 50 Jahre alt, es gibt grundsätzlich keine Altersbeschränkung.

Volksstimme: Und das funktioniert dann auch noch? Also auch, wenn 17- oder 27-Jährige kommen?

Dr. Retzlaff: Das ist überhaupt kein Problem. Die Therapie ist keine Frage des Alters. Es ist sogar so, dass die Therapien bei älteren Betroffenen unkomplizierter verlaufen, da dann schon eine gewisse Sprachkompetenz vorhanden ist und mit mehr Reife herangegangen wird. Dann kann man sich besser auf das Kernproblem konzentrieren. Das Lerntempo ist dann auch höher.

Eine Schwierigkeit besteht allerdings darin, wenn Schulkinder aus dem Sekundarschulbereich zu uns kommen, insbesondere dann, wenn es in der achten oder neunten Klasse ist und es um die Abschlusszensur geht. Da hat man kaum noch Zeit, den Anschluss an den Lernstoff herzustellen und den angestrebten Schulabschluss zu er- reichen, weil einfach die Zeit fehlt.

Volksstimme: Wie lange dauert denn eine Therapie im Durchschnitt?

Dr. Retzlaff: In der Regel zwei Jahre. Manchmal geht es ein bisschen schneller, es kann auch länger dauern, wenn es noch andere Begleitfaktoren gibt wie beispielsweise ADHS, weil dann die Therapiezeit oft nicht komplett für das Kernproblem ausgenutzt werden kann. Die Sitzungen erfolgen einmal in der Woche mit 45 Minuten Therapiezeit, im Anschluss daran erfolgt ein Beratungsgespräch und die Auswertung mit den Eltern. So können die Eltern immer genau nachvollziehen, was das Problem ist, an dem gearbeitet wird. In diesem Zusammenhang gibt es dann auch ergänzende Hausaufgaben, die nach Möglichkeit - deshalb muss auch immer die Schule mit ins Boot - die schulischen Mathehausaufgaben ersetzen, bis der Anschluss an den aktuellen Lernstoff erreicht ist. Hinzu kommt, dass auch der Lehrer beraten wird, was er schon von dem betreffenden Schüler erwarten kann und was besser nicht gefordert werden sollte. Für die Kinder gibt es die Möglichkeit, einen Nachteilsausgleich zu bekommen, also dass sie zum Beispiel weniger Aufgaben lösen müssen.

Volksstimme: Viele Kinder bekommen Nachhilfeunterricht, hilft der wirklich?

Dr. Retzlaff: Nachhilfe funktioniert bei Dyskalkulie nicht. Den Betroffenen fehlen grundlegende mathematische Einsichten. Das Problem ist ja, dass in der Mathematik eine Hierarchie existiert und zwar derart, dass jeder Lernschritt vollzogen sein muss, damit der nächste funktioniert. Und jetzt ist es so, dass die betroffenen Kinder teilweise mit einer sehr ungünstigen Lernausgangslage zur Schule kommen. Das ist zum Teil der Tatsache geschuldet, dass heute nicht mehr das in der Vorschule stattfindet, was es früher gab. Da wurden in den Kindergärten gewisse Übungen zu Mengen, Längen und Vergleichen und so weiter gemacht, so dass die Kinder, wenn sie zur Schule kamen, halbwegs mit einer homogenen Lernausgangslage ausgestattet waren, was auch für die Lehrer den Unterricht sehr erleichterte. Heute gibt es Defizite derart, dass Kinder nicht wissen, dass Mengen sich nur dadurch verändern können, dass man etwas hinzugibt oder wegnimmt. Für diese Kinder sind Zahlen bloße Elemente einer Reihe. Aus Sicht der Kinder hat beispielsweise die 8 mit der 3 und der 5 nichts zu tun - wir wissen, dass 8 in 3 und 5 zerlegt werden kann. Dadurch werden Rechenwege nicht verstanden. Die Lernhierarchie muss in jedem Lernprozess eingehalten werden. In der Nachhilfe ist es in der Regel so, dass dort der aktuelle Schulstoff beackert wird. Die Kinder üben dann Rechenwege, obwohl ihnen die Grundlagen für das Verständnis fehlen. Deshalb können sie sich die Rechenwege auch nicht einprägen und würfeln am Ende Teilschritte munter durcheinander. Für die betroffenen Kinder ist die Nachhilfe dann nur Geplapper, dem sie keinen Sinn entnehmen können.

Volksstimme: Weshalb ist Dyskalkulie so schwer zu erkennen?

Dr. Retzlaff: Weil die Kinder nicht immer nur falsche Ergebnisse produzieren. Sie haben sich durchaus irgendwelche Strategien ausgedacht, mit denen zum Teil auch richtige Ergebnisse zustande kommen. Das sind Algorithmen, die teilweise funktionieren, zum Beispiel 63-24=39, denn 60-20=40, 4-3=1 und 40-1=39, aber bei 63-21=42, (60-20=40, 3-2=1 und 40-1=39) wird es dann falsch. Der Punkt ist also, dass man nicht direkt am Ergebnis erkennt, ob das Kind die Aufgabe verstanden hat. Wobei ein richtiges Ergebnis leider so gedeutet wird, dass alles in Ordnung sei. Und das ist das Problem: Dass Menschen, die in der Nachhilfe mit den Kindern arbeiten, gar nicht das Wissen um die subjektiven Strategien haben. Dazu braucht es einer speziellen Diagnostik, mit der man herausfindet, wie das Kind im Lerngegenstand denkt. Insofern ist bei der Diagnostik mehr erforderlich, als nur die Ergebnisse anzugucken.

Volksstimme: Das ist in der Tat ein sehr vielschichtiges Problem. Gibt es Seminare, in denen Sie Ihr Wissen weitergeben?

Dr. Retzlaff: Ja. Zum einen ist das der Themenabend am 24.Oktober in der Allendeschule, zu dem jeder Interessent willkommen ist, und dann finden über die Kreisvolkshochschule am 7. November um 17 und um 19 Uhr sowie in Salzwedel am 14. November zu den gleichen Zeiten Informationsveranstaltungen statt.

Volksstimme: Das Feld der Dyskalkulie ist sicher auch für Lehrer ein schwieriges Thema, oder?

Dr. Retzlaff: Ja, ich denke schon. Denn das gehört nicht zur Lehrerausbildung. Aber mittlerweile gehört es zur Lehrerfortbildung. Da bin ich recht aktiv, das heißt, wir bieten beispielsweise über das Kultusministerium Fortbildungsveranstaltungen an, bei denen Lehrer aller Klassenstufen zu dieser Thematik geschult werden.

Volksstimme: Wie wird das von den Lehrern angenommen?

Dr. Retzlaff: Sehr gut, mit viel Interesse. Ich habe bisher sehr positive Erfahrungen ge- macht.

Volksstimme: Gibt es nicht auch Lehrer, die dem Thema nicht so aufgeschlossen gegenüberstehen und ein Kind mit Rechenschwäche als wenig anstrengungsbereit abstempeln?

Dr. Retzlaff: Ja, solche Reaktionen habe ich leider oft erlebt. Aber eher in der Vergangenheit, als wir in Magdeburg das Institut eröffnet haben. Da hörte ich des Öfteren, so was gibt es nicht, das hat irgendwer neu erfunden. Aber im Laufe der Zeit hat sich das geändert. Rechenschwäche gilt als ein Störungsbild, das von der WHO als Rechenstörung bezeichnet wird.

Volksstimme: Wer regelt die Zusammenarbeit mit der Schule?

Dr. Retzlaff: Der Ausgangspunkt ist der, dass die Eltern zu uns kommen, wenn sich die Verdachtsmomente verdichten. Dann wird die Diagnostik durchgeführt, auf deren Grundlage die Eltern einen Kurzbericht zur Vorlage in der Schule erhalten. So erhält die Schule Bescheid. Es können Anträge gestellt werden, beispielsweise auf Nachteilsausgleich. Etwa nach Ende des ersten Therapiemonats gibt es einen Erstkontakt zwischen Therapeut und Lehrer, und später erfolgen regelmäßige Gespräche - schließlich möchten auch wir wissen, wie sich die schulische Entwicklung des Kindes im Verlauf der Therapie verbessert hat. Zum Nachteilsausgleich möchte ich noch anmerken, dass dieser sehr wichtig ist, aber nur vorübergehend im Interesse des Kindes liegt, denn schließlich muss es Rechnen lernen, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Ein Nachteilsausgleich ist daher nur für den Zeitraum der Therapie sinnvoll und muss auch stets an den Lernstand angepasst werden. Die Therapie verfolgt schließlich das Ziel, einen Nachteilsausgleich überflüssig zu machen.

Volksstimme: Das ZTR hat seinen Hauptsitz in der Landeshauptstadt Magdeburg. Müssen Betroffene dann den weiten Weg nach Magderburg auf sich nehmen?

Dr. Retzlaff: Nein. Mittlerweile haben wir ein weit verzweigtes Netz an Außenstellen. Hier in der Region befinden die sich in Salzwedel und jetzt auch in Klötze. Eine Außenstelle in Gardelegen ist in Vor- bereitung.