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Homosexualität Vom steinigen Weg eines Travestiekünstlers

Der jüngste Travestiekünstler Deutschlands lebt in Magdeburg. Hinter ihm liegt ein steiniger Weg. Am 2. Mai feiert er seinen 18. Geburtstag.

Von Christina Bendigs 02.05.2018, 14:12

Magdeburg l „Ich bin schwul.“ Mit diesen Worten hat sich Otto Selau vor seinen Klassenkameraden am Ende eines Vortrages geoutet – im Alter von 14 Jahren: „Und es war mir so unangenehm.“ Für sein Referat hatte er sich einen Artikel über Homophobie – die Abneigung gegen Homosexuelle – ausgesucht. Seine Mitschüler hatten kein Problem damit, die Lehrerin mit dieser Art seines Outings schon.

Wegen des Protests der Klassenkameraden verschwand die Fünf wieder aus der Zensurenliste. „Das Schlimme ist ja: Bevor man selbst es weiß, wissen es meist schon alle anderen.“ Und so sei er bereits im Kindergarten- und Grundschulalter als „der Schwule mit der Handtasche“ betitelt worden, wenn er im Dorf unterwegs war. Rückblickend sagt er: „Ich war schon immer schwul.“

Ursprünglich kommt Otto Selau aus der Altmark, aus dem kleinen Dörfchen Tarnefitz. Inzwischen lebt er in Magdeburg, feiert am 2. Mai 2018 seinen 18.  Geburtstag und ist der wohl jüngste Travestiekünstler Deutschlands. Als Dorf-Diva Ottilie  S. tourt er durchs Land. Doch hinter ihm liegt ein steiniger Weg, auf dem er sich vor allem gegen familiäre Widerstände durchsetzte.

Dass er einmal im Show-Geschäft landen würde, war für ihn allerdings schon früh klar: „Eigentlich wollte ich schon immer Schauspieler werden.“ Von jüngster Kindheit an fühlte er sich auf der Bühne wohl.

Er sang im Grundschulchor bei den Miester Drömlingsspatzen mit, schlüpfte schon damals für kleine Sketche in unterschiedliche Rollen, parodierte unter anderem seine Oma, führte zu Geburtstagen im Familienkreis kurze Szenen auf, ging ab der fünften Klasse auf ein katholisches Gymnasium in Wolfsburg, wo er in einer Theatergruppe mitwirkte und das klare Ziel verfolgte, Kontakte zum Theater Wolfsburg zu knüpfen.

Er wurde in die Kindertheatergruppe des Wolfsburger Hauses aufgenommen, leitete später die Jugendtheatergruppe und konnte dort viel für die Zukunft lernen. Und dann habe er recht bald bemerkt, „dass bei mir irgendetwas anders ist“. Denn er interessierte sich vermehrt für Frauenrollen.

Die Beziehung zu seinen Eltern erlebte durch sein Outing einen harten Bruch. Zuerst erfuhr es nur seine Mutter. „Das war am 1. Januar 2015.“ Otto Selau wollte zu einem Freund nach Gardelegen fahren. „Meine Mutter hat sich darüber gewundert und gefragt, warum ich denn jetzt zu ihm fahren will. Ich habe darauf geantwortet: ‚Weil ich in ihn verliebt bin‘.“ An diesem Tag sei er zu Hause „rausgeflogen“ und zunächst zu seiner Patentante gelaufen. Wenige Wochen später „erwischte mich mein Vater in Frauenkleidern“.

„Das Schlimme waren ja nicht mal die Auftritte, sondern dass ich auf einmal schwul war“, erzählt er. Besuche beim Jugendamt folgten, eine Familienhelferin wurde eingesetzt. „Ich durfte nur einmal pro Woche Kuchen backen und keine Schuhe tragen, die höher als 12  Zentimeter waren“, nennt der heute 18-Jährige einige Beispiele, wie er von seiner Homosexualität abgebracht werden sollte. Sogar in psychologische Behandlung sollte er sich begeben. Der Punkt für seinen endgültigen Auszug aus dem Haus der Eltern war damit erreicht.

Lange wurde nach einem Heim gesucht, in das er ziehen konnte, nach einer Schule, die ihn aufnehmen würde. In Brandenburg wurde schließlich ein Platz für ihn gefunden. Dass es sich um ein Heim für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung handeln würde, wusste er beim Einzug nicht. In den Sommerferien sei er sogar in eine Psychiatrische Klinik eingewiesen worden. „Da habe ich dann extra die Tunte raushängen lassen“, erzählt er. Seine Therapeutin habe dann irgendwann gesagt: „Wissen Sie, Sie sind so eine starke Persönlichkeit, Sie werden Ihren Weg schon gehen.“

Und den ging er. In der Zwischenzeit hatte er erste Engagements als Travestiekünstler, seine Kollegin Trude Bunker wurde für ihn zur Zweitmutter. Die Freundschaft besteht bis heute und die beiden stehen auch gemeinsam auf der Bühne.

Die Travestie ist für Otto Selau eine Leidenschaft. Sein Freund hat für ihn in der gemeinsamen Wohnung sogar extra ein Zimmer eingerichtet und Regale für Schuhe, Schmuck, Perücken und Kleider gebaut – ein Paradies aus Glitzer und Glamour, Kleiderständer voll funkelnder Kostüme, ordentlich aufgereiht, in mehreren Etagen, Schuhe, Perücken, Hauben. Was der junge Mann besitzt, entspricht dem Preis eines guten Autos.

Viele Kleider hat der 18-Jährige selbst genäht, in mühevoller Kleinarbeit Pailletten oder Federn aufgeklebt. Ganze Nächte hat er damit zugebracht. Aber auch von verstorbenen Travestiekünstlern hat er Sachen und Perücken übernommen – aus Respekt vor den Künstlern und um Dinge zu bewahren. Denn mit seinen jungen Jahren ist er ein Exot in dieser Branche.

Von Beginn an orientierte er sich an heute vergessenen Stars wie Elisabeth Volkmann und Hape Kerkeling als Uschi Blum. Viele seiner Kolleginnen seien um Jahrzehnte älter. Der Zickenkrieg sei nicht nur Klischee, sondern verbreitet in der Szene.

In seinen Programmen achtet er darauf, auch gesellschaftskritisch zu sein. Wenn sich Otto Selau, der sich auf der Bühne vor allem als Clown und Schauspieler versteht, neue Conferencen oder Sketche ausdenkt, handeln sie nicht selten von Arztbesuchen, von Schule und Beruf, dem Zusammenleben zwischen Frauen und Männern oder von Rentnern, er besingt die AfD, nimmt Politiker aufs Korn.

Die passenden Songs zu finden, ist oft eine langwierige Suche. Und Otto Selau arrangiert sie für die Bühne neu. Nicht selten habe er bereits erlebt, dass seine Bühnen-Nummern geklaut worden seien. „Das ist an sich ja nicht schlimm, aber man könnte auch vorher mal fragen“, findet er. Auch er übernimmt Nummern von Kolleginnen – aber nicht ohne ihre Zustimmung.

Was er gar nicht (mehr) mag an seiner Leidenschaft, ist das Schminken. Gut zwei Stunden dauert das Volksstimme-Interview, und diese Zeit braucht er auch, bis er sich von Otto in Ottilie verwandelt hat. Das Schwierigste sei, die Augenbrauen halbwegs symmetrisch hinzubekommen. „Aber da sage ich mir inzwischen: Augenbrauen sind keine Zwillinge, sondern Geschwister.“ Mit jeder der sieben Schichten von Grundierung bis Glitzer-Lipgloss ändert sich seine Körperhaltung.

Spätestens wenn er die Perücke über seine kurzen blonden Haare stülpt, ist von dem jungen Mann kaum noch etwas zu sehen, sondern ist er ganz Ottilie.

Ottos Freund und Ottilie seien lediglich flüchtige Bekannte. Und wenn es nach Otto Selau geht, „wird sich Ottilie nie verlieben, ewig Jungfrau bleiben“. Nach der Show „wird sie an die Stange gehängt, und gut ist“. Herkömmliches Make-up aus der Drogerie nutzt er übrigens kaum. Stattdessen verwendet er Theaterfarben, die zum einen viel besser halten, zum anderen auch in Wunschfarben angefertigt werden, so dass sie zu Accessoires wie Blumen oder Schmuck passen.

Den Ausgleich zur schillernden Welt der Travestie findet Otto Selau im Garten. „Der Duft der Blumen, Tomaten zu ernten, so bin ich groß geworden“, sagt er, „und ich möchte auch nicht in einer Stadt aufgewachsen sein.“

Das Verhältnis zu seiner Mutter hat sich längst wieder gebessert – oft ist er zu Besuch bei seinen Eltern. „Als wir gemeinsam in Gardelegen-City shoppen waren und das gleiche Kleid anprobierten und sie dann sagte: ‚Dir steht es besser‘, wusste ich, jetzt sind wir auf einem guten Weg.“ Am schwierigsten sei für ihn die Zeit im Heim gewesen: „Ich weiß bis heute nicht, wie ich das geschafft habe.“ Wichtige Stützen waren vor allem Freunde, seine Kollegin Trude Bunker, aber auch seine Oma sei nicht nur eine wichtige Vertrauensperson, sondern auch ein Mensch, der ihn stark geprägt habe. Nur sein Vater könne sich nach wie vor nicht ganz mit dem Weg seines Sohnes arrangieren.

Über seine Geschichte spricht Otto Selau mit einer Offenheit, Gelassenheit und Klarheit, die überrascht, und die ihn deutlich reifer erscheinen lässt, als man es einem 18-Jährigen zutrauen würde. Dass er so offen über seinen Weg redet, hat vor allem damit zu tun, dass er anderen Mut machen möchte. Außerdem will er Toleranz vermitteln und zeigen, wie es möglich sein kann, dass in einer Zeit wie unserer noch so viel Intoleranz herrscht: „Wir haben 2018! Man kann sich das manchmal gar nicht vorstellen.“ Einen Teil seiner Zeit widmet er daher auch Workshops, in denen er über seinen Weg mit anderen spricht.

Wer Otto Selau alias Dorf-Diva Ottilie S. einmal live erleben möchte, muss dafür zumeist etwas weiter fahren. 100 Mal pro Jahr tritt er auf, in Orten vom Schwarzwald bis nach Hamburg, „überall dort, wo die Bühnen zu mir und meinem Programm passen“, sagt er lachend. Häufig tritt er in ländlichen Regionen auf, wo die Travestie-Künstler noch etwas Besonderes und nicht alle Tage zu erleben sind. Dann überzieht er auch mal, wird auch mal derb in seiner Wortwahl, und klingt so gar nicht nach dem bedachten jungen Mann Otto Selau. Und wenn’s den Leuten gefällt und sie lachen, „dann ist das Ziel erreicht“.

Wie seine Zukunft aussieht, ist für Otto Selau noch offen. Wichtig ist ihm vor allem, dass er Freude an dem hat, was er tut. Sein jetziges Leben empfindet er als verwirklichten Traum. Einige Wünsche fallen ihm nach kurzem Überlegen dann aber doch noch ein: einmal im Theater oder Musical eine Frauenrolle spielen, einmal eine Show im berühmten Moulin Rouge in Paris hinter den Kulissen zu sehen, einmal mit seiner Zweitmutter eine Show über das Bar-Leben machen.

Am 14.  September 2018 gastiert er im Theater Grüne Zitadelle im Hundertwasserhaus, wo er sonst für die Maske, Ausstattung und Kostüme zuständig ist.