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Integration Magdeburger Amt schickt Inkasso-Unternehmen

Der Syrer Abdul Salam Shneah hat in Magdeburg Arbeit und Wohnung gefunden. Sprachbarrieren sorgen nun für Ärger.

Von Franziska Ellrich 02.11.2017, 00:01

Magdeburg l Ein halbes Jahr lang sucht Abdul Salam Shneah nach einer eigenen Wohnung. Der 22-Jährige ist vor dem Krieg in Syrien geflohen und will nach anderthalb Jahren in Magdeburg raus aus der Gemeinschaftsunterkunft. Als fast zeitgleich mit der Wohnungszusage auch das Jobangebot von Jens Rudloff kommt, ist Abdul Salam Shneah glücklich, hat zum ersten Mal das Gefühl, ankommen zu können.

Die Arbeit im Naturstein-Betrieb in Rothensee macht Abdul Salam Shneah Spaß. Er ist Schleifer von Beruf, kann mit Stein umgehen, hat in Syrien bereits acht Jahre lang mit Marmor gearbeitet. Sein neuer Chef sucht seit Jahren händeringend nach Natursteinmechanikern und schätzt Abdul Salam Shneahs „Gefühl für das Material“. Seine Kollegen loben seine freundliche und verlässliche Art.

Bis vor ein paar Wochen die Mitarbeiter im Betrieb den Syrer plötzlich ganz ruhig und schweigend erleben. Erst als der Chef nachhakt, rückt der 22-Jährige mit der Sprache heraus und zeigt den Brief vom Inkasso-Service der Arbeitsagentur. Abdul Salam Shneah ist verzweifelt, versteht die Forderung nicht. Er hat gerade in Deutschland zum ersten Mal Gehalt verdient, und die zeitnah geforderten fast 1100 Euro nicht auf dem Konto.

Erst als Jens Rudloff sich alle Unterlagen von seinem neuen Angestellten zeigen lässt, wird klar, was passiert ist: Abdul Salam Shneah musste für seine erste eigene Wohnung in Deutschland Genossenschaftsanteile in Höhe von mehr als 1100 Euro zahlen. Mit dem Schreiben seines neuen Vermieters war der Syrer zum Jobcenter gegangen und hatte ein Darlehen für diese Anteile bewilligt bekommen.

Das Problem ist nur: Der Flüchtling wusste nicht, was ein Darlehen ist, und sei der festen Überzeugung gewesen, dass das Jobcenter das Geld so lange für ihn auslege, bis er aus der Wohnung wieder auszieht, erklärt Abdul Salam Shneah. Und macht deutlich: Die monatliche Rückzahlung in Höhe von 40 Euro wären für ihn kein Problem, er hätte es nur wissen müssen.

Doch wie können solche Missverständnisse entstehen, wie stellen die Mitarbeiter sicher, dass ihr Gegenüber sie versteht? Die Volksstimme hat bei der Behörde nachgefragt. „Viele unserer ausländischen Kunden bringen zu den Terminen Übersetzer mit oder kommen in Begleitung von sprachkundigen Bekannten“, erklärt Jobcenter-Sprecher Christian Schmidt.

Aus der Arbeitsagentur heißt es: „Die Berater wiederholen bei Bedarf, fassen die Gesprächsinhalte am Ende noch einmal zusammen und versichern sich, ob das Gesagte verstanden wurde“, sagt Arbeitsagentur-Sprecher Georg Haberland. Christian Schmidt betont jedoch: Es dürfe allerdings nicht vergessen werden, dass „kraft Gesetz die Amtssprache Deutsch ist“ und Vereinbarungen mithin in deutscher Sprache getroffen würden.

Das versteht Abdul Salam Shneah. Er ist ein rühriger junger Mann, hat sich regelmäßig nach Jobangeboten erkundigt und will selbstständig seinen Alltag meistern. Doch im Fall des ihm Angst einjagenden Inkasso-Schreibens muss er seinen Chef doch um Hilfe bitten. Denn darin steht: Zahlt Abdul Salam Shneah nicht, werde das Geld „zwangsweise“ eingezogen.

Jens Rudloff ruft sofort beim Inkasso-Service der Arbeitsagentur an und wird abgewiesen. Mit der Begründung: Er sei nicht legitimiert, für Abdul Salam Shneah zu sprechen, obwohl der Syrer direkt am Telefon seine Einwilligung gibt. Doch das reiche nicht aus.

Jobcenter-Sprecher Christian Schmidt verweist auf Volksstimme-Nachfrage auf eine Vollmacht, die schriftlich erfolgen müsse. Und er erklärt: „Im Zweifel muss dem Sozialgeheimnis der Kunden Vorrang eingeräumt werden.“ Nur dass dieser „Sozialkunde“ die fremde Sprache nicht versteht.

Abdul Salam Shneah hat zwar einen Integrationskurs besucht, doch besonders zielführend sei der nicht gewesen. Das Deutsch des Syrers ist immer noch sehr brüchig. Menschen aus einem Dutzend verschiedener Nationen hätten mit ihm während des Deutschunterrichts in einem Raum gesessen, alle auf einem völlig unterschiedlichen Lernniveau.

Seit der Flüchtling unbefristet bei dem Rothenseer Natursteinbetrieb angestellt ist, übt er jeden Nachmittag für ein paar Stunden Deutsch mit Maren Prellwitz, der Frau von Jens Rudloff. Das Buch „Bootsmann auf der Scholle“ ist seitdem sein ständiger Begleiter, Seite für Seite arbeitet er sich durch den Text.

Jens Rudloff und seine Frau machen sich seitdem stark dafür, dass der Syrer noch einen Deutschkurs besuchen kann. Sie haben sich an verschiedene Behörden gewandt, Institutionen angeschrieben – doch alles ohne Erfolg. In einem Schreiben an die Arbeitsagentur erklärt Jens Rudloff: „Wie sollen sich ausländische Flüchtlinge in Deutschland integrieren, wenn ihnen die Sprache nicht ausreichend vermittelt, dafür aber der Inkasso-Service ins Haus geschickt wird?“

Auf Nachfrage der Volksstimme erklärt Georg Haberland von der Arbeitsagentur, dass es verschiedene Maßnahmen gebe, die einen Sprachanteil Deutsch beinhalten würden. Ob so eine Maßnahme für Abdul Salam Shneah infrage kommt, ist noch offen.

Fest steht jedoch: Jens Rudloff wird weiter kämpfen. Die Entscheidung, den Syrer angestellt zu haben, bereut er nicht. Allerdings hätte er sich vor ein paar Monaten noch vorstellen können, auch anderen Flüchtlingen eine berufliche Perspektive in seinem Betrieb anzubieten. Doch aufgrund des hohen Aufwands, der Diskussion mit den Behörden, sei das aktuell keine Option mehr. Jens Rudloff: „Die behördliche Gleichgültigkeit erschreckt mich und steht im vollkommenen Widerspruch zur öffentlich verkündeten Position der Verantwortlichen.“