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KündigungMagdeburger sollen ihre Wohnhäuser räumen

Abrissarbeiten kündigen das Aus der Magdeburger Gartenanlage am Gübser Weg an. Einige Pächter wohnen hier seit Jahren und sollen raus.

Von Jana Heute 22.01.2019, 00:01

Magdeburg l Ein eisiger Wind fegt durch die winter-kahlen Gärten am Gübser Weg in Magdeburg. Die meisten Parzellen wirken verlassen. Doch der erste Eindruck trügt. In einigen Gärten wohnen sogar Menschen und das seit Jahren schon.

Einer von ihnen ist Rentner Gerhard Michaelis. Er hat sein gepachtetes Gartenland schon vor langer Zeit zu seinem Zuhause gemacht. Im Vorgarten stehen kleine Gartenzwerge Spalier. „Ich habe schon einiges aus den leeren Gärten zusammengetragen“, erklärt er die illustre Sammlung. An einem Metallbäumchen baumelt noch eine brennende Lichterkette – die letzten Reste vom Weihnachtsfest.

Michaelis fühlt sich hier wohl, genau wie drei seiner Nachbarn, die wie der 77-Jährige in den teils massiv gebauten Bungalows leben. „Wir sind alle bei der Stadt eingetragen und mit Hauptwohnsitz hier gemeldet. Das kann doch nicht sein, dass wir jetzt hier weg müssen“, sagt Michaelis und kann es auch Monate später noch immer nicht richtig fassen.

Im Sommer 2018 hätten sie alle „ohne Vorwarnung“ ihre Kündigung erhalten. Das knapp zwei Hektar große Areal hatte da einen anderen Eigentümer bekommen. Die neuen Besitzer, die Brüder Tilo und Dirk Geistlinger aus Magdeburg, haben über ihren Anwalt ordentliche Kündigungen veranlasst.

Seit diesem Moment ist für Michaelis und die anderen nichts mehr so wie es war. Bei den verbliebenen Pächtern, die hier fest wohnen, schwankt die Stimmung zwischen Verzweiflung und Trotz. „Ich habe kein anderes Zuhause. Notfalls gehe ich unter die Brücke“, meint Gerhard Michaelis. Er kann und will nicht verstehen, dass das über Jahrzehnte Aufgebaute einfach so verschwinden soll. Und er gleich mit.

Diana Rothe und Nancy Herbst sehen das ganz ähnlich. „Uns geht es schlecht. Wir wissen nicht, wo wir hin sollen“, sagt Diana Rothe, die mit ihrem Partner und dem heute fünfjährigen Sohn 2015 an den Gübser Weg gezogen ist. Für die Aufbauten hätten sie dem Vormieter noch eine Abstandszahlung geleistet, berichtet sie, und fügt hinzu: „Wir haben einen Postkasten vor der Tür. Regelmäßig kommt die Müllabfuhr. Wir wohnen hier!“

Außerdem hätten sie viel Geld investiert, ergänzt Nachbarin Nancy Herbst. „Wir haben das Dach gedämmt, die Wände neu verputzt, neuen Fußboden verlegt und das Bad neu gefliest.“ Den Garten übernahm Nancy Herbst 2012 von der Oma. Die Familie habe hier schon in den 1930er Jahren einen Schrebergarten gehabt, in dem sie jetzt lebt. Ihre Familie habe dafür sogar eine Wohnraumzuweisung bekommen, erklärt sie.

Das hat auch die 75-jährige Heide Günther. Die Seniorin wohnt sogar schon seit 50 Jahren auf dem gepachteten Grundstück und das augenscheinlich ganz offiziell. Heide Günther legt zum Beweis eine originale Wohnraumzuweisung von der Stadt Magdeburg vor. Ausgestellt am 7. Juli 1967 durch den Rat des Stadtbezirks Mitte für das Grundstück Gübser Weg 40. Zwei Zimmer und eine Küche sind darauf vermerkt. Sie hat mit ihrer Familie hier gelebt. Heute wohnt sie allein auf der Parzelle, hegt und pflegt sie wie all die Jahre.

„Seit wir die Kündigungen unserer Pachtverträge im Briefkasten hatten, haben wir schlaflose Nächte“, erzählen Diana Rothe und Nancy Herbst. Bärbel Pötsch ist die einzige in der Runde, die ihren Garten (in dem sie nicht selbst wohnte) schweren Herzens geräumt hat. Die anderen haben sich inzwischen Anwälte genommen.

Diese werden einiges aufzuarbeiten haben, denn die Lage ist kompliziert. Zu DDR-Zeiten sei das gesamte Areal, auf dem sich rund zwei Dutzend Gärten befinden, von der Kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV) bewirtschaftet worden, später übernahm die Wobau, so berichten die Pächter. Zuletzt sei eine Rechtsanwältin vom Gericht als treuhänderische Verwalterin eingesetzt worden. Ihr gegenüber habe man immer deutlich gemacht, dass man Interesse am Kauf der selbst genutzten Gärten habe, betonen die Betroffenen.

Umso größer sei die Enttäuschung gewesen, als sie von dem plötzlichen Verkauf erfahren hätten. Auch, dass zuvor die Erbin einer früheren Erbengemeinschaft aus Freiburg gefunden worden war, hätten sie zu spät erfahren. Da war der Verkauf schon unter Dach und Fach. „Wir haben dann mit der Erbin telefoniert“, berichten sie. Die alte Dame sei davon ausgegangen, dass die Gärten leer stünden und schon gar niemand darin wohne. Selbst gesehen hat die Erbin das betreffende Grundstück offenbar nicht.

Nun aber sind Tatsachen geschaffen. Die Kündigungen liegen auf dem Tisch – mit unterschiedlichen Kündigungsfristen. Teils sind die Pachtverträge schon zum Jahreswechsel abgelaufen, teils gelten sie noch bis Ende 2019. Mit dem Beginn der Abrissarbeiten vor ein paar Tagen rückt das Problem nun aber immer näher.

Auf Hilfe der Stadt Magdeburg können die Betroffenen kaum hoffen. Obwohl diese seinerzeit hier offiziell Wohnraum zugewiesen hat, sieht sich die heutige Stadtverwaltung nicht in der Verantwortung. Auf Volksstimme-Nachfrage heißt es, es handele sich um eine „privatrechtliche Angelegenheit zwischen den Beteiligten“. Die Stadt sei zudem „kein Vertragspartner des Grundstücksgeschäfts gewesen“. Auch zum Thema Wohnrecht fällt die Antwort dünn aus. Zum früheren und heutigen Meldestatus der genannten Personen könne man „aus Datenschutzgründen keine Auskünfte“ geben, lautet die Antwort.

Gesprächsbereiter zeigen sich die neuen Eigentümer. Miteigentümer Tilo Geistlinger reagierte auf Nachfrage verwundert auf den Umstand, dass für die Gärten teils eine jahrzehntealte Wohnraumzuweisung existiert. Das habe er nicht gewusst. Normalerweise sei das verbrieftes Gartenland und dann „ist das Wohnen hier nicht in Ordnung“, hält er fest.

Dass Parzellen auch fest bewohnt werden, dürfte den Brüdern aber nicht verborgen geblieben sein. Die Eltern hatte selbst in der Anlage rund 30 Jahre lang einen Garten. Daran haben die Brüder beste Kindheitserinnerungen. „Wir sind hier mit aufgewachsen“, meint Tilo Geistlinger. Umso trauriger sei es mit anzusehen, wie sich der Zustand der Anlage in den letzten Jahren verschlimmert habe.

Mehr als zwei Drittel der Gärten sei inzwischen verwahrlost. Teilweise werde Müll in Gärten gelagert. Es gebe Ungeziefer und Ratten. Bei einigen Pächtern seien Zahlungsrückstände aufgelaufen. Die Familie habe zum Jahresende ihren Garten aufgegeben. „Das hat mit dem Umfeld keine Freude mehr gemacht“, erklärt Tilo Geistlinger.

Nun hat der Bagger angefangen, Tatsachen zu schaffen. Auf dem ersten Grundstück direkt am Gübser Weg wurde in der Vorwoche ein Bungalow abgerissen. Das werde jetzt auch der erste Schritt sein, die bereits leer stehenden Grundstücke zu beräumen, erklärt der neue Eigentümer. Er beruft sich auf das Recht der ordentlichen Kündigung der Pachtverträge.

Was soll mit den Bewohnern in der Anlage werden? Tilo Geistlinger bietet an, dass die Betroffenen umgehend entsprechende Nachweise der Wohnberechtigung bei seinem Anwalt einreichen. „Wir sind doch keine Unmenschen“, sagt er. Wenn ein berechtigtes Wohninteresse bestünde, sei man „auch bestrebt, das weiter zu verfolgen. Wir gucken uns das dann genau an“, meint Tilo Geistlinger. Andererseits müsse man auch verstehen, wenn sie als Eigentümer mit ihrem Grundstück eigenverantwortlich umgingen.

Für die betroffenen Pächter stellt sich derweil die Frage, was aus dem Gelände werden soll. Gerüchte, dass hier Wohnungen oder konkret auch Sozialwohnungen gebaut werden sollen, weist der Eigentümer vehement zurück. Das sei „an den Haaren herbeigezogen“.

Noch gebe es keine konkreten Pläne außer der Beräumung der verlassenen Gärten, sagt Tilo Geistlinger. Zumindest bestätigt die Stadtverwaltung auf Volksstimme-Nachfrage: Ein Bauantrag oder eine Bauvoranfrage liegt für das Areal am Gübser Weg bislang nicht vor.

Gerhard Michaelis und die anderen kann das indes kaum beruhigen. Sein Pachtvertrag zum Beispiel läuft am 30. Juni 2019 aus.