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Rettungsdienst Er ist die Rettung aus der Luft

Seit 15 Jahren hebt die DRF Luftrettung „Christoph 36“ in Magdeburg ab. Drei Piloten gehören zum Team. Einer von ihnen ist Marco Cramme.

28.03.2021, 00:00

Magdeburg

Vor zwölf Jahren erschoss ein Jugendlicher in Winnenden 15 Menschen und schließlich sich selbst. Es war der 11. März 2009, als der 17-Jährige Amok lief. Und es war der allererste und zugleich schlimmste Einsatz von Marco Cramme bei der DRF Luftrettung. Damals befand er sich noch in der sogenannten Supervisionsphase, bei der die DRF-Piloten an verschiedenen Standorten unter Aufsicht eines erfahrenen Piloten den Einsatzalltag kennenlernen. „Ich weiß noch, dass ich 9.40 Uhr auf Station saß und meinte, ich bin hier nicht zum Kaffeetrinken. Nicht mal eine Minute später wurden wir zum Einsatz nach Winnenden gerufen“, erinnert er sich. Er sah nicht nur die toten Kinder, sondern anschließend auch das Leid der Eltern, Mitschüler und Geschwister. Es folgte der Einsatz in Wendlingen, wo der jugendliche Amokläufer ebenfalls drei Menschen erschossen hatte. „Wir konnten nur noch den Tod feststellen.“

Einsätze in Krisengebieten und ein Leben in Kanada

Obgleich der Pilot versucht, eine Grenze zwischen sich und der Arbeit zu ziehen, lässt das Erlebnis ihn nicht los. Zwölf Jahre sind seither vergangen. Marco Cramme flog zuvor 18 Jahre als Berufssoldat, war in Krisengebieten, im Kosovo und Bosnien, doch der Amoklauf sei das Schlimmste, was er je erlebt hat.

Zu der Zeit war er noch in Leonberg im Dienst, war nach zwei Jahren in Kanada, wo er Baumstämme aus Gebirgshängen rausflog, der Kinder zuliebe wieder nach Deutschland gekommen. Nach einiger Zeit als „Springer“ mit deutschlandweiten Einsätzen kam der gebürtige Wilhelmshavener 2010 nach Magdeburg – die DRF-Luftrettung „Christoph 36“ wurde seine feste Station. Seit 2019 leitet er diese gar, ist längst in der Elbestadt zu Hause. Wobei sein eigentliches Zuhause die Luft ist. Bereits als Sechsjähriger träumte er vom Fliegen, hatte das Glück, dass seine Eltern mit einem amerikanischen Piloten befreundet waren. Oft staunte er über den Hubschrauber Jet Ranger Bell 206, den dieser flog. Im Alter von zehn Jahren durfte er erstmals mitfliegen, danach stand fest: Er will Pilot werden.

Eine Entscheidung, die er nie bereut habe. Insbesondere das Hubschrauberfliegen begeistere ihn. „Der Hubschrauber ist für mich das faszinierendste Luftfahrzeug. Er kann rückwärts fliegen, gerade aufsteigen, in der Luft stehen.“

Eigenschaften, die für die Luftrettung zwingend notwendig sind. Marco Cramme muss auf diversen Untergründen und in den verschiedensten Umgebungen landen können. Am schwierigsten sei es in der Stadt.

Rotor verdrängt fünf Tonnen Luftmasse

Dies nicht nur, weil die Landeflächen sehr klein sein können oder Stromleitungen, Masten und Poller im Weg sind. Auch, weil er auf die Menschen ringsherum Acht geben muss. „Der Rotor verdrängt fünf Tonnen Luft. Kinder und ältere Menschen würde das wegpusten“, erklärt er. „Wir kommen ja, um Leben zu retten, und nicht, um noch Menschen zu verletzen.“

Auch im Winter seien insbesondere im ländlichen Bereich Landungen mitunter knifflig. Dann, wenn die Schneedecke beispielsweise kleine Teiche und Seen bedeckt. „Wenn hier drei Tonnen auf einer Eisschicht landen, kann man sich ausmalen, was passiert“, sagt er.

Einmal habe er im ersten Moment tatsächlich nicht gesehen, dass er sich einen Teich zur Landung ausgesucht hat. Das war knapp. Ein Blick auf die Karte verhinderte ein Unglück.

Bis zu elf Mal sind Christoph-36-Piloten am Tag in der Luft. Einsätze fliegen sie von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Es gebe jedoch auch Tage, an denen sie gar nicht starten. Nicht etwa, weil keine Einsätze einlaufen. Der Hubschrauber bleibt im Hangar, wenn dichter Nebel oder eine tiefhängende Wolkendecke die Sicht unmöglich machen. „Das Wetter setzt uns Grenzen.“ Das komme zum Glück jedoch sehr selten vor.

An Bord des „Christoph 36“, ein Hubschrauber des Typs H135, sind neben einem Piloten auch ein Notarzt und ein Notfallsanitäter. Mit bis zu 300 Stundenkilometern fliegen sie zu den Einsätzen, die sich häufig im ländlichen Raum befinden. Sie heben dann ab, wenn ein Notarzt so schnell wie möglich vor Ort sein muss, was im ländlichen Raum per Auto oft kaum zu schaffen ist. „Wir sind quasi eine Art Notarztzubringer. Wir schließen die Lücken zur Versorgung.“ Dabei sind es nicht hauptsächlich Polytraumen, zu denen sie gerufen werden. Es können durchaus auch Einsätze wie Unterzuckerung oder Luftnot sein.

Einsätze, die an die Nieren gehen

Wie es ihren Patienten nach dem Rettungsflug geht, erfahren die Piloten zumeist nicht. Manchmal behandeln die Ärzte an Bord die Patienten weiter und erzählen dann, ob sie es geschafft haben oder nicht. Doch für die psychische Gesundheit sei es mitunter besser, nach dem Flug abzuschließen. Obgleich das nicht immer gelingt. Zu den Einsätzen, die Marco Cramme noch lange beschäftigt haben, gehört beispielsweise jener des kleinen Jungen, der im Oktober vergangenen Jahres nach einem Kita-Ausflug im Neustädter See ertrunken ist. „Da knabbere auch ich dran“, sagt er. Cramme, der zweieinhalb Jahre ehrenamtlich beim Kriseninterventionsdienst arbeitete, betreute vor Ort den Vater des Kindes. „So etwas geht einem an die Nieren.“

Es gebe aber auch positive Erlebnisse in seinem Beruf. So fand er mit seinem Hubschrauber einen Mann, der per Telefon gerade noch einen Notruf absetzen, aber nicht mehr sagen konnte, wo er sich befand. Die Leitstelle holte die letzte Handyortung ein. „Von dem Sendemast aus sind wir sternförmig alles abgeflogen und haben ihn tatsächlich gefunden“, erzählt er. Der Mann hatte einen Magendurchbruch und befand sich in Lebensgefahr.

Das seien Momente, aus denen Marco Cramme viel Energie und Zuversicht zieht. „Dafür sind wir und dafür ist der Hubschrauber da.“

Übrigens: Der Luftrettungspilot hat es erst zweimal erlebt, dass einstige Patienten sich bedankten. Das sei seiner Meinung nach auch nicht nötig. „Außerdem kennt uns ja keiner. Wir retten anonym.“