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Früher gab es Land als Gegenleistung für Reiterdienste, heute unterstützt die Pacht das Gemeinwohl In Kroppenstedt wird seit mehr als 630 Jahren Reithufenacker an Bauern vergeben

Von Gudrun Billowie 14.04.2012, 05:23

Kroppenstedt trägt den Beinamen Reithufenstadt, eine Bezeichnung, wie sie in Deutschland einmalig ist. Ebenso besonders ist, dass diese Stadt ihre Tradition der Reithufenvergabe seit mehr als 630Jahren am Leben erhält und noch immer Ackerflächen verlost werden.

Kroppenstedt l Allein das Wort Reithufe stellt Unkundige vor ein schier unlösbares Rätsel. Dabei ist die Geschichte zwar ungewöhnlich, aber durchaus nachvollziehbar. Sie geht zurück auf den unglaublich dicken Erzbischof Ludolf.

Der war im zwölften Jahrhundert in Kroppenstedt geboren worden. "Er soll drei Zentner gewogen haben", erzählt Monika Schmidt, Vorsitzende des Heimatvereins, "das hielt ihn aber nicht davon ab, in den Krieg zu ziehen. Allerdings brauchte er einen Sechsspänner." Er sammelte 1100 Reiter aus der gesamten Börde und führte sie dem Kaiser zu. Im Kampf taten sich die Kroppenstedter Bauern besonders hervor, sodass die Landesherren auch künftig gerne auf die Kroppenstedter Bauern zurückgriffen. Sie wurden zu Reiterdiensten herangezogen.

"Die Reiter übernahmen den Straßenschutz, Patrouilliendienste, den Grenzschutz, hielten Ehrenwache am Gröninger Schloss für Heinrich Julius und kümmerten sich um die landesherrliche Korrespondenz - also die Post", erzählt Monika Schmidt. In dieser Zeit konnten sie ihre Felder nicht bewirtschaften. Seit 1371 ist überliefert, dass sie für ihre Dienste mit Hufen Acker belohnt wurden. Hufe ist eine Flächeneinheit und hat zwischen 14 und 28 Morgen. Und weil die Hufen für Reiterdienste gegeben wurden, heißen sie Reithufen.

Mit einer Hufe Acker konnte ein Bauer, der Reiterdienst verrichtete, also 14 oder 28 Morgen erhalten. Das scheint auf den ersten Blick ungerecht. "Diese Fläche wird aber mit der Bodenpunktzahl verrechnet", erklärt Monika Schmidt. Das heißt, hat die Hufe steinigen Boden, ist sie größer, weil ein steiniger Boden weniger Ertrag hergibt. Liegt die Hufe in einem Gebiet mit fettem Bördeboden, ist sie kleiner, weil der Ertrag trotz kleinerer Fläche besser zu werden verspricht.

"Wer eine Reithufe haben wollte, musste ein paar Morgen Acker haben und eine eigene Frau."

Bis 1719 wurden die Reithufen auf sechs Jahre vergeben. "Im Jahre 1727 löste Friedrich Wilhelm I die Reitertruppe auf", erzählt Museumsleiterin Heike Wolters. Die eigentlichen Besitzer der an die Bauern verpachteten Reithufen waren Kirche und Rat. Der Kirche besaß 14 Hufen, 26 gehörten dem Rat. Nach der Auflösung der Reitertruppe verblieben die Reithufen auf Lebenszeit bei den Bauern, die sie an ihre Nachkommen weitervererben durften.

An die Besitzer und die Erben waren jedoch Forderungen gestellt. Kroppenstedter mussten sie sein, das war klar. Der 55-jährige Ulrich Tiedge ist Kroppenstedter und seine Großmutter Wanda besaß so eine Reithufe. Ulrich Tiedge hat auf der Urkunde folgende Bedingungen gefunden: "Wer eine Reithufe haben wollte, musste ein paar Morgen Acker haben und eine eigene Frau", erzählt er, "und es mussten zwei Pferde vom Hof gehen." Wobei Tiedge mutmaßt, dass damit gemeint war, dass der Bauer zwei Pferde besitzen musste. Schließlich mussten sie bei Bedarf sofort aufsitzen und Reiterdienste verrichten können.

Wegen der Vererbbarkeit geschah es nur noch selten, dass eine Reithufe frei wurde. "Und wenn, dann wurden sie neu verlost", erzählt Monika Schmidt. Die letzte Reithufenverlosung fand 1939 statt.

Der Zweite Weltkrieg überrollte das Land, die Zivilisation lag in Trümmern. Nach dem Krieg starb auch die Reithufe-Institution. "Am 20. Oktober 1947 erlischt sie", weiß Monika Schmidt. In der DDR gab es ohnehin kein Privateigentum, die Bauern schlossen sich in der LPG oder dem Volkseigenen Gut (VEG) zusammen und die Reithufen wurde beinahe vergessen.

Doch nach der Wende krempelte sich das Recht wieder um. "Im Grundbuch standen immer noch die Stadt und die Kirche als Eigentümer dieser Reithufen", erzählt Monika Schmidt. Damit wurde dieser Stiftung wieder neues Leben eingehaucht. Doch vierzig Jahre DDR hatten auch Traditionen ausgelöscht. Viele Reithufen waren über die DDR-Zeit besitzerlos geworden, sei es, weil es keine Nachkommen gab oder die Familien sich längst woanders orientiert hatten. Damit war die Chance für den Neuanfang gegeben.

"Seit 1992 verlosen wir wieder Reithufen", sagt die Vorsitzende des Heimatvereins. Wie immer, wenn es um Besitz, Grund und Boden geht, bewegen sich die Akteure auf kompliziertem rechtlichen Terrain. Monika Schmidt zeigt einen dicken Papierstapel und stöhnt über Präambeln und Satzungen. Dennoch haben sich Stadt und Kirche zu einer Stiftung zusammengefunden und die Sache mit den Reithufen wieder aufleben lassen.

"In dieser Stiftung sitzen drei Vertreter der Stadt und drei Vertreter der Kirche zusammen."

"In dieser Stiftung sitzen drei Vertreter der Stadt und drei Vertreter der Kirche zusammen", sagt Monika Schmidt. Den Vorsitz jeder Fraktion haben jeweils der Pfarrer und der Bürgermeister inne, der Gesamtvorsitz wechselt jedes Jahr. Doch auch an den Stiftungsvorstand sind Forderungen gestellt. "Sie dürfen selbst keine Reithufe und keinen Acker besitzen", so Monika Schmidt. Deshalb übernimmt sie als stellvertretende Bürgermeisterin Kroppenstedts den Vorsitz anstelle des Bürgermeisters. Für die Kirche bildet Gemeindepädagoge Jürgen Vogel den Kopf.

"Wer heutzutage eine Reithufe besitzt, muss zwar nicht mehr in den Krieg ziehen", sagt Monika Schmidt, "aber er muss Pacht zahlen." Diese Pacht kommt dem Gemeinwohl zugute. Kroppenstedter Vereine und Projekte werden davon unterstützt. So werden beide Seiten zu Siegern. Bauern können guten Bördeboden bewirtschaften und die Stadt kann spannendes Leben finanzieren. Weil das so ist, wird die Verlosung auch im Rahmen eines Volksfestes vollzogen, alle zwei Jahre am dritten Oktober zum Freikreuzfest. Solange noch Reithufen frei sind.

"Das Gute ist, ich sehe, was mit der Pacht bei uns in Kroppenstedt passiert."

Allerdings entschieden sich die Vertreter der Stiftung, die Reithufe nicht auf Lebenszeit zu vergeben, sondern auf zwei Jahre befristet. Ulrich Tiedge war im vergangenen Jahr einer der Bewerber. Mit ihm wollten mehr als zehn andere haupt- oder nebenberuflich arbeitende Bauern eine Reithufe gewinnen.

"Die Verlosung ist eine spannende Sache", erzählt Monika Schmidt, "mit viel Trommelwirbel, Fahnenschwenken und Musik." Die Bühne steht direkt am Freikreuz. Nach der ersten Losrunde blieben sechs Bewerber übrig und mussten erneut Lose ziehen. Ulrich Tiedge hielt eins der sechs Lose der Hand. Alle mussten mit den Losen zur zweiten Runde auf die Bühne gehen. "Als ich die Treppe hochgegangen bin, hat mein Herz ganz schön geblubbert", gesteht Tiedge.

Trommelwirbel. Alle anderen hatten ihre Lose aufgerollt. Es waren Nieten. "Na dann muss ich ja gewinnen", sagte Tiedge und glaubte zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich daran. Doch das Wunder geschah. Ulrich Tiedge gewann eine Reithufe. "Es ist genau die Reithufe, die schon meiner Großmutter Wanda gehört hatte." Kaum zu fassen.

Er hat guten Bördeboden erwischt und baut Mais darauf an. "Für die Biogasanlage", sagt er. Und die Pacht? "Ja, die ist nicht ohne. Aber das Gute ist, ich sehe, was damit bei uns in Kroppenstedt passiert." Die genaue Höhe nennt er nicht.

Am 2. Oktober 2013 läuft der Pachtvertrag für Ulrich Tiedge aus. Am 3. Oktober wird es eine neue Verlosung geben.