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Psyche Umgang mit der Ausnahmesituation

Lange gibt es in den Schulen und Kitas keinen Regelbetrieb. Welche Spuren das bei den Jüngsten in Oschersleben hinterlässt.

Von Michelle Kosub 16.02.2021, 00:01

Oschersleben l Nicht alle Eltern haben einen Anspruch auf Notbetreuung für ihr Kind. Ist das Kind schulpflichtig, steht Homeschooling auf dem Plan. Die Eltern übernehmen neben ihrem eigentlichen Job zusätzlich die Rollen des Erziehers oder Lehrers. Doch wie belastend sind diese Veränderungen für die Kinder und Jugendlichen?

Dagmar Prophet bemerkt die Veränderungen durch die Corona-Pandemie. Als Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie in der Ameos-Tagesklinik in Oschersleben kümmert sie sich tagtäglich um die Sorgen und Probleme ihrer jungen Patienten. Laut ihrer Aussage gibt es bereits erste Untersuchungsergebnisse dazu, ob sich Kinder und Jugendliche durch die Corona-Pandemie psychisch belastet fühlen. Bundesweit wurden bei der sogenannten Corona –und Psyche-Studie (COPSY) 1000 Kinder und Jugendliche im Alter von sieben bis 17 Jahren online befragt. Aus ihr geht hervor, dass sich etwa 70 Prozent durch die Corona-Pandemie psychisch belastet fühlen. „Die Datenlage ist derzeit jedoch noch völlig unzureichend, um sichere Aussagen treffen zu können“, sagt Dagmar Prophet.

Sich mit Freunden treffen, auf dem Schulhof in der Pause Fußball spielen oder nachmittags seinem Hobby nachgehen, all diese Dinge sind wegen des Lockdowns nicht erlaubt. Die Kontaktbeschränkungen machen den meisten Kindern und Jugendlichen, genau wie den Erwachsenen, zu schaffen, ist sich Dagmar Prophet sicher. Denn das Treffen mit Freunden wirke anregend, entlastet und gleicht emotional aus.

Ein großer Druck laste derzeit auf Eltern und ihren Kindern. Dies kann zu Anspannungen und Streitigkeiten zu Hause führen. „Wir leben derzeit in einer Ausnahmesituation, in welcher keine gewohnte Lebensführung möglich ist“, sagt die Oberärztin. Diese führe zwangsläufig zu veränderten Verhaltensweisen, wie zum Beispiel leichter reizbar oder schneller frustriert zu sein in bestimmten Situationen. Dagmar Prophet rät Eltern, sich die Tatsache der Ausnahmesituation vor Augen zu halten, um sich selbst gegenüber und den Kindern etwas geduldiger und nachsichtiger zu sein. Eltern sollten dabei auch auf ihre eigenen Ressourcen achten.

„Je stabiler Eltern sind, umso besser können sie ihren Kindern Sicherheit und Halt geben“, sagt sie. Feste Essens- und Einschlafzeiten sowie gemeinsam Zeit zu verbringen, sind wichtig. Ein Spieleabend, gemeinsam einen Film anschauen oder basteln seien dafür eine gute Idee. „Insbesondere Jugendliche benötigen manchmal elterliche Kontakt-und Aktivitätsangebote, damit Computerzeiten nicht ausufern“, so Prophet.

Ein weiterer Belastungsfaktor ist das Homeschooling. Es ersetze laut Dagmar Prophet nur teilweise die mit dem Schul- oder Kitabesuch verbundene Tagesstruktur. Das Lernen in einer Gruppe von Gleichaltrigen und die Möglichkeit, unmittelbar pädagogisch Einfluss zu nehmen, ist nur teilweise Zuhause machbar. „Damit fehlen derzeit bedeutsame Faktoren für den sozialen und emotionalen Kompetenzerwerb“, so Prophet. Gerade Kinder und Jugendliche mit einer psychischen Vorerkrankung würden besonders sensibel darauf reagieren, wenn sich ihre gewohnten Lebensumstände verändern. Das führe zu mehr Stress und geringeren Möglichkeiten, diesen zu kompensieren. Hinzu kommt, dass vielen Kindern und Jugendlichen der Schulbesuch aus unterschiedlichen Gründen schwer falle. Einige gingen deshalb gar nicht mehr zur Schule. Laut Dagmar Prophet sei diese Zahl in den letzten Jahren gestiegen. Die Kinder und Jugendlichen ziehen sich aus ihrer Familie und ihrem Freundeskreis zurück. Wegen der andauernden Schulschließungen befürchtet die Oberärztin, dass sich diese Probleme bei den Betroffenen weiter festigen. „ Es bleibt zu hoffen, dass umfangreiche Forschungen ein besseres Verständnis zu Risikofaktoren und Belastungsfolgen ermöglichen, um gesellschaftlich und gesundheitspolitisch gegensteuern zu können“, sagt Prophet.

Doch wie merken Eltern, dass es ihrem Kind gerade nicht gut geht? Zumeist merken die Eltern, wenn mit ihrem Kind etwas nicht stimmt. Doch durch die aktuelle Situation, in der viele Menschen unter anderem Ängste um sich und Familienangehörige haben, sei es laut Dagmar Prophet auch eine Herausforderung, seine Kinder sensibel und aufmerksam zu beobachten.

Auffälliges Verhalten hänge laut Prophet von der Persönlichkeit des Kindes und dem Grad der Belastung ab. Gereiztheit, Stimmungsschwankungen oder Schlafstörungen können unter anderem Anzeichen dafür sein, dass es dem Kind nicht gut geht. „Gerade bei jüngeren Kindern können manchmal körperliche Beschwerden wie Bauch- und Kopfschmerzen Hinweise auf Stress sein“, sagt die Oberärztin. Dann sollten sich Eltern eine professionelle Einschätzung einholen.

Auch in ihrem Berufsalltag bemerkt Dagmar Prophet einige Veränderungen. Die Nachfrage nach Behandlungsplätzen sei seit Jahresbeginn im Vergleich zu den Vorjahren deutlich gestiegen. Und auch die Motivation der Patienten sei derzeit eine große Schwierigkeit.

„Wenn Schulen geschlossen sind, fragt sich manch jugendlicher Patient häufiger, wieso er früh am Morgen ins Taxi steigen soll, um in die Tagesklinik zu fahren“, sagt sie. Welche langfristigen Folgen der Lockdown für Kinder und Jugendliche hat, könne laut Prophet erst in den nächsten Monaten, wenn nicht sogar Jahren beurteilt werden. Eine erhöhte Herausforderung sieht sie in der kommenden Zeit auf pädagogische Fachkräfte und Helfersysteme im Kinder- und Jugendbereich zukommen. Als psychotherapeutisch arbeitende Ärztin sei sie von der enormen Entwicklungskraft von Kindern überzeugt. „Ich bewundere in meinem Berufsalltag oft Kinder für ihre Anpassungsfähigkeit und Kreativität auch mit schwierigen Situationen zurechtzukommen“. Daher ist sie optimistisch, dass viele Kinder und Jugendliche diese schwierige Zeit unbeschadet überstehen werden.

Bei Sorgen und Problemen gibt es verschiedene Anlaufstellen, um sich Hilfe zu holen. Eine davon ist der Verein Nummer gegen Kummer. Nora Malmedie ist Fachberaterin für die Online-Beratung. Auf Nachfrage der Volksstimme teilte sie mit, dass es im Jahr 2020 eine deutliche Steigerung um 31 Prozent für die Online-Beratung für Kinder und Jugendliche gegeben habe. Das Anrufaufkommen am Kinder- und Jugendtelefon (KJT) bewegte sich 2020 mit 461 000 Beratungen,ungefähr auf gleich hohem Niveau wie 2019. „Kinder nutzen die Beratungsangebote KJT und Onlineberatung verstärkt, um mit der für sie ungewohnten neuen Situation umzugehen“, so Nora Malmedie. Vermehrt werde über psychische Probleme, Einsamkeit und Konflikte innerhalb der Familie und auch verstärkt über Gewalterfahrungen gesprochen.

Auch für die Eltern gibt es am gleichnamigen Telefon Hilfe. Im Jahr 2020 wurden 17 798 Beratungen am Elterntelefon geführt. Dies seien laut Nora Malmedie 64 Prozent mehr als noch im Jahr 2019.

Hilfe gibt es am Kinder-und Jugendtelefon unter der 116 111 oder online unter www.nummergegenkummer.de/kinder-und-jugendberatung/online-beratung/

Das Elterntelefon ist unter der 0800 111 0 550 zu erreichen