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Spielsucht Süchtige sind fabelhafte Lügner

Ein Mann aus dem Altmarkkreis Salzwedel befreite sich selbst vom Zwang des Zockens. Mit der Volksstimme sprach er über seine Spielsucht.

Von Gesine Biermann 09.06.2020, 12:50

Salzwedel l Man kann ihn mit gutem Gewissen als gestandenen Kerl bezeichnen. Der Westaltmärker, nennen wir ihn Udo S., steht mit beiden Beinen im Leben, ist beruflich erfolgreich, lebt in einer festen Beziehung, ist ein liebevoller Vater, kommt finanziell prima zurecht. Jetzt.

Denn es gibt ein paar Jahre in seinem Leben, da war alles anders. Da drehte sich alles um blinkende Automaten. Da waren die Spielcasinos sein zweites Zuhause. Udo S. war über einen langen Zeitraum spielsüchtig. Heute blickt er selbstbewusst auf diese Zeit zurück. Er hat es geschafft, aus eigenem Antrieb, und ist zu Recht stolz darauf.

An den Abend, an dem alles begann, erinnert er sich gut. Eigentlich will er nur schnell Zigaretten holen. Der nächste Automat steht zufällig in einer Spielhölle, gleich neben zahlreichen, bunt blinkenden einarmigen Banditen. An einem davon sitzt ein Mann. „Der hatte gerade zwei Euro reingesteckt und sofort 50 Euro gewonnen“, erzählt S. Der Automat habe eine schöne Melodie gespielt. Das weiß er noch. An diesem Abend geht er wieder nach Hause. Aber das Erlebnis wirkt nach. Und Tage später versucht er es einfach auch mal ...

Damals geht es ihm nicht gut. Ein „privater Tiefpunkt“. Das Spielen lenkt ihn ab. Und es ist ja auch nicht schlimm. „Es ging ganz langsam los.“ 10, 20 Euro Spieleinsatz sind leicht zu verschmerzen. „Irgendwann war es dann auch mal ein Hunderter.“ Aber er gewinnt schließlich auch. „Es gab Tage, da bin ich mit 500, sogar mal mit 700 Euro nach Hause gegangen.“ Doch das Geld hat S. nicht lange. Er setzt es wieder ein. Und verliert. Nicht nur Geld – manchmal bis zu 250 Euro am Abend –, sondern auch seine gesunde Selbsteinschätzung. Längst ist er gefangen vom Druck der Sucht. Immer wieder geht er nach Feierabend in die Spielothek.

„Die Stühle sind saubequem und man muss nur mit dem Finger schnipsen, dann kommt schon eine Bedienung, mit Cola oder Kaffee.“

Dort herrscht eine angenehme Atmosphäre: Überall liegen Teppiche, das Licht ist angenehm, man ist per Du, „die Stühle dort sind saubequem und man muss praktisch nur mit dem Finger schnipsen, dann kommt schon eine Bedienung, bringt Cola oder Kaffee.“

Alles sei darauf ausgerichtet, es den Spielern so nett wie möglich zu machen, sagt Udo S.

Angst, dass jemand außerhalb der Räume irgend wem von seiner Sucht erzählt, muss er nicht haben. Wer dort spielt, trägt sicher nichts nach draußen. „Und die Angestellten haben Schweigepflicht. Sie verdienen damit schließlich ihr Geld.“ Übrigens ebenso wie Vater Staat, sagt S. kritisch. Und außerdem habe er das selbst schon „ganz pfiffig angestellt“, sagt er ironisch. Sein Fahrrad lässt er zum Beispiel nie direkt vor der Spielothek stehen.

Und dennoch schöpft sein Umfeld irgendwann Verdacht. „Manche haben es eher gesehen als ich“, gibt Udo S . zu. „Aber es war schwer, ihnen Recht zu geben.“ Er beschwichtigt ihre Zweifel. „Süchtige sind generell gute Geschichtenerzähler, fabelhafte Lügner und gute Schauspieler“, weiß er: „... länger gearbeitet, einen Kumpel getroffen ...“, Udo S. beweist viel Fantasie, um plausible Ausreden zu erfinden.

Doch dann lässt sich der chronische Geldmangel irgendwann eben nicht mehr wegschauspielern. Es sei zunehmend schwerer geworden, den normalen Lebensunterhalt zu bestreiten, sagt er.

Und dann kommt der Herbssttag, den Udo S. heute als seinen „Wendepunkt“ bezeichnet: Er hat kein Geld mehr. Finanziell ist er komplett im Aus. Es reicht nicht mal mehr für Kleinigkeiten.

Das ist der Moment, wo er zu sich kommt. Er findet den Mut, mit einem Menschen aus seinem Umfeld darüber zu sprechen. Er übergibt seine kompletten Geldgeschäfte jemandem, dem er vertraut, der von da an seine Finanzen regelt.

„Mehrere Monate lang hatte ich überhaupt kein Geld in der Tasche“ sagt Udo S. und schmunzelt: „Wenn ich mir Schuhe kaufen wollte, habe ich mir den Betrag dafür geben lassen und habe danach die Quittung abgeliefert.“

Hilfe holt er sich aber auch von professioneller Seite. Der Arzt – allerdings erst der zweite, den er wegen des Problems konsultiert – diagnostiziert nach seiner ehrlichen Beichte schließlich auch noch eine schwere Depression. „Eine ganz böse Kombination“, weiß Udo S. heute, weil sich beide gegenseitig verstärken.

Ein Jahr lang ist er krankgeschrieben, macht eine Therapie. Dort lernt er auch Strategien, die ihm helfen, die Sucht zu verstehen, zu erkennen und in Schach zu halten. Und er findet auch eine ganz persönliche Taktik, um sich vor dem Spieldrang zu schützen: „Ein Mensch, der mir sehr viel bedeutet, war das Stoppschild in meinem Kopf“, sagt er. Ein starkes Bild.

Während der Reha, die dann folgt, erlebt der Endvierziger dann schließlich seinen zweiten Aha-Moment. Er läuft durch Dresden, als einer seiner Mitpatienten ihn plötzlich fragt: „Hast du nicht gesehen? Wir sind eben an einer Spielothek vorbeigegangen.“ Ihm sei der Laden gar nicht aufgefallen, versichert Udo S.. Vorher hatte er dafür einen Scanner, hätte so ein Lokal sofort bemerkt. Der Suchtdruck war offensichtlich überwunden.

Und das ist bis heute so geblieben. Längst kann er wieder ganz entspannt Geld einstecken. Abends hat er es oft immer noch in der Tasche. Ein gutes Gefühl. Und er ist sicher, dass andere das auch schaffen können.

Diese anderen, er sieht sie öfter: „Wenn ich durch die Stadt gehe, könnte ich auf Anhieb sieben, acht Leute nennen, die definitiv spielsüchtig sind.“ Ihnen rät er, sich jemandem anzuvertrauen. „Und zwar einem, der auch ehrlich genug ist, das nicht schönzureden.“ Wenn nicht im Freundes- oder Verwandtenkreis, dann eben jemandem der sich professionell damit auskennt.

Vor allem aber müsse man ehrlich zu sich selbst sein, sagt Udo S.

Dann muss er los. Es gibt pünktlich Essen. Feste Strukturen – auch die gehören zu seinem neuen Leben. Und „vielleicht ein bisschen zu viel Kaffee ...“