Familiengeschichte Ära der Buchhandlung Weyhe in Salzwedel nach 150 Jahren zu Ende
Zum letzten Mal hatten Freitag und Sonnabend Kunden die Möglichkeit, im Buchladen von Helga Weyhe in Salzwedel in den Regalen zu stöbern. Zum Abschied versammelte sich auch die Familie, der bis zu ihrem Tod im Januar ältesten Buchhändlerin Deutschlands.

Salzwedel - Ein bisschen ist es wie immer und doch ganz anders. Der Geruch nach Papier und alten Büchern ist unverändert, doch in den Regalen klaffen Lücken. Es bleibt das Gefühl, dass Helga Weyhe gleich aus ihrem Büro kommt und fragt, ob sie helfen kann. Stattdessen sitzen ihre beiden Nichten an der Kasse. Ingrid Rosenthal und Sibylle Kreisel betreuen an den beiden letzten Verkaufstagen die Bücherfreunde, die in Scharen kommen, um noch einmal in dem heimeligen kleinen Laden eins oder mehrere Bücher zu kaufen. Die meisten Leute suchen augenscheinlich nichts Bestimmtes. Sie gehen an den Regalen entlang, gucken hier und da, bleiben versonnen stehen, schauen sich um und lassen sich viel Zeit.
„Haben Sie den Stoffel noch“, will eine Kundin wissen. „Nein“, bekommt sie zur Antwort. Die letzten Exemplare des Kinderklassikers, der bekannterweise ein Lieblingsbuch der Buchhändlerin war, sind längst weg. „Stoffel fliegt übers Meer“ von Erika Mann hat sie im Alter von zehn Jahren zum ersten Mal gelesen, erzählte Helga Weyhe vor einigen Jahren.
Ein Lieblingsbuch
Die Geschichte von dem Jungen, der als blinder Passagier nach Amerika fliegt, sei zeitlos spannend, auch wenn sie schon Anfang der 1930er Jahre geschrieben wurde. Auch sie habe immer den Traum gehabt, nach Amerika zu gelangen und ihren Onkel in New York zu besuchen – ein Buchhändler. Das gelang ihr erst 1982, da wurde sie Rentnerin und durfte aus der DDR ins kapitalistische Ausland reisen, wie es damals hieß.
„Fast jeder, mindestens aber 90 Prozent haben eine Geschichte erzählt, die sie mit meiner Großtante oder dem Laden verbinden“, berichtet Ute Lemm, Großnichte von Helga Weyhe. Viele Erinnerungen seien wach geworden. So an die DDR-Zeit, als Helga Weyhe so manches Buch auftrieb und besorgte, das anderswo nicht zu haben war.
Leute aus nah und fern wollen sich verabschieden
Sie und die ganze Familie seien erstaunt, wie viele Menschen sich von der Buchhandlung verabschieden wollen. Schon bevor sie am Freitag öffnet, bildet sich eine Schlange vor der Ladentür. Die Leute kommen aus der Stadt, dem Umland oder ganz gezielt weiter her, um noch einmal das Flair und den Charme der in großen Teilen historischen Einrichtung zu erleben. Das eine oder andere literarische Schnäppchen ist ebenfalls drin – ob aus dem antiquarischen Bestand oder aus dem neueren Sortiment.
Als dann am Sonnabend um 18 Uhr die Ladentür abgeschlossen wird, geht eine Ära zu Ende – 150 Jahre Buchhandlung Weyhe in Salzwedel. Fast 150 Jahre, denn eigentlich sollte das Bestehen im Oktober gefeiert werden, erzählt Ute Lemm Danneil-Museumsleiter Ulrich Kalmbach.
Er wollte es ebenfalls auf keinen Fall versäumen, noch einmal vorbeizukommen. Halb dienstlich, halb privat. Einiges aus der Einrichtung des Ladens, wie alte Bilder, Dokumente, Möbelstücke und wertvolle Bücher, sollen einen Platz im Museum bekommen und dort für die Nachwelt aufbewahrt werden.
Vater übernahm das Geschäft
Helga Weyhes Großvater hat die Buchhandlung 1871 gekauft, erzählt Ute Lemm. Nach dem Ersten Weltkrieg übernahm ihr Vater das Geschäft. Sie selbst war seit 1965 die Chefin. Mitten im Zweiten Weltkrieg hatte sie in Breslau, Königsberg und Wien Germanistik und Geschichte studiert. „Das haben in diesen Zeiten nur wenige Frauen geschafft“, sagt Ute Lemm. Ihre Großtante habe es immer in die Ferne gezogen, sie sei gern gereist. „Das liegt bei uns in der Familie“, meint die Großnichte mit einem Lächeln. Immerhin sei die Verwandtschaft über ganz Deutschland, Europa und darüber hinaus verstreut. So ist zum Abschied auch Besuch aus Paris nach Salzwedel gekommen.
Wie es nun weitergeht, bleibe abzuwarten. Der Laden werde auf jeden Fall verkauft. Eine Nichte von Helga Weyhe sei zwar Buchhändlerin, könne aber das Geschäft nicht übernehmen. Alle anderen seien beruflich eingebunden. Aus der Entfernung könnten sie den Laden nicht führen. „Außerdem hat er von der Persönlichkeit meiner Großtante gelebt“, schätzt Lemm ein.
Es gebe Interessenten und sie denke, dass es im Sinn dieses traditionsreichen Geschäftes weitergeht. Denn bevor die Familie Weyhe das Haus erwarb, war dort bereits eine Buchhandlung ansässig, gegründet 1840 von Johann Dietrich Schmidt.