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Vergessenes Dorf Der Zwei-Einwohner-Ort Groß Grabenstedt

Noch zwei Bewohner leben am Ortsrand von Groß Grabenstedt bei Salzwedel. Sie bewahren die Erinnerung an ein fast vergessenes Dorf.

Von Alexander Rekow 28.01.2019, 00:01

Groß Grabenstedt l Eisig bläst der Wind über die westliche Altmark. Greifvögel halten im kargen Geäst am Rande der Landesstraße 6 (L6) nach Essbarem Ausschau. Ein paar Rehe äsen auf den Feldern. Es ist ein beschaulicher Flecken Erde, von der Natur umrahmt. Von der Kreisstadt Salzwedel sind es rund 20 Kilometer in die verträumte Gegend. Dort verweist ein Schild an der L6 auf den Ort Groß Grabenstedt, unweit der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Jene Nähe wurde den Bewohnern und ihren historischen Gehöften vor vielen Jahrzehnten zum Verhängnis.

An der L6 zwischen Henningen und Klein Grabenstedt steht ein prachtvoller Vier-Seiten-Hof. Pferde und Rinder bestimmen die Szenerie. Weit und breit ist nichts zu sehen oder hören. Ein klassisches Gehöft in der Altmark – und doch hat es ein trauriges Alleinstellungsmerkmal. Hier leben die letzten zwei Einwohner von Groß Grabenstedt. Es sind Jürgen und Dorothee Neuling. Sie wohnen seit 1991 hier. Dem Rest des Dorfes wurde zu DDR-Zeiten die Existenz entrissen.

„Wir sind die einzigen hier“, sagt Jürgen Neuling (61) und trinkt einen Schluck Kaffee. Er sitzt mit seiner Frau Dorothee (60) in der Wohnstube am Kamin. Auf dem Holztisch liegen alte Fotos, Zeitungsartikel und der Stammbaum der Familie. Erinnerungen auf Papier gebannt. An der Wand alte Schwarz-Weiß-Aufnahmen des Ortes und der Familie.

Dorothee Neuling zeigt aus dem Fenster über die L6 auf ein nahe gelegenes Waldstück. „Dort, da war ,Alt-Grabenstedt‘“, sagt sie. Sie bezeichnet den Ort so, den es heute eigentlich nicht mehr gibt. Denn dort, wo einst das Leben spielte, ist heute nur ein altes Stallgebäude übrig geblieben. Versteckt in der Flora, als würde sie vergessen bleiben wollen. Aber genau das wollen Neulings nicht. Denn es ist nicht nur irgendeine Geschichte, es ist auch ihre. Daher wurde auf Initiative der Neulings und weiterer Engagierter der Region ein Gedenkstein vor dem Ort aufgestellt.

„Im Jahr 1931 lebten noch 96 Einwohner hier“, sagt Dorothee Neuling. Sie hat ein altes Einwohnerverzeichnis auf ihrem Schoß, noch handschriftlich in Kurrent verfasst. Auch ihre Wurzeln liegen dort. Der Stammbaum lässt sich rund 400 Jahre zurück verfolgen. 1649 ist Jacob Gravenstede aus der Linie „Derer zu Gravenstedt“ erwähnt, ein Urahn von Dorothee Neuling, deren Mädchenname Albrecht ist. 1795 wurde aus dem Namen Gravenstedt schließlich Grabenstedt. Durch Heirat kam der Name Nieber in die Familie.

Ihr Ur-Großvater Adolf Nieber errichtete sich 1895 mit seiner Frau Karoline eine eigene Existenz an der L6, dem heutigen Wohnhaus der Neulings. Sein Bruder Gustav blieb auf dem Stammgehöft der Familie, welches es wie den Rest nicht mehr gibt. Ihre Ur-Großeltern und Großeltern führten im Vier-Seiten-Hof an der L6 neben der Landwirtschaft den ehemaligen Dorfkrug, die Kneipe des Ortes. „Es wurde Bier ausgeschenkt und Skat gespielt“, weiß sie aus Erzählungen.

Im Jahr 1952 sollte sich das Leben der Groß Grabenstedter für immer ändern. Dem DDR-Regime war das Dorf zu nah an der Grenze. Unter dem Decknamen „Ungeziefer“ wurden die Einwohner zwangsumgesiedelt und der komplette Ort dem Erdboden gleich gemacht. Auch vor dem Gotteshaus machten die Planierraupen keinen Halt. „Immerhin gibt es die Glocke noch“, sagt Jürgen Neuling. Sie läutet heute in der Dorfkirche von Osterwohle. Ansonsten blieb nur ein Teil eines ehemaligen Gehöftes, die Stallgebäude, übrig. Dort leben heute die Tiere des Waldes statt Menschen. „Das war ein prachtvolles Dorf“, weiß Jürgen Neuling. Durch einen Torbogen ging es auf einen der großen Höfe. „Die hatten Schiefernplatten auf dem Dach“, sagt er, „das war was besonderes und spricht für den einstigen Wohlstand von Groß Grabenstedt.“

Ein Maschendrahtzaun umzäunt den ehemaligen Friedhof. Friedhofsidyll sucht man dort vergebens. Er ist komplett verkrautet. Nur ein Holzkreuz verweist noch auf den Gottesacker. „Das haben Nachkommen der Familie dort aufgestellt“, sagt Dorothee Neuling. Beide sprechen mit einer Mischung aus Trauer und Unverständnis über „Alt-Grabenstedt“. Unverständnis darüber, mit welcher Brutalität die Bewohner zwangsumgesiedelt wurden. Trauer darüber, was vom wohlhabenden Dorf geblieben ist.

Eine der damaligen Dorfbewohner war Margit Bischoff, geborene Jennrich. Dorothee Neuling hat ihre Erinnerungen auf Papier vor sich liegen. Ein Foto von 1942 zeigt sie als Sechsjährige auf dem elterlichen Hof. In dem Schreiben erzählt sie von jenem Tag, der das Schicksal ihres Heimatdorfes besiegelte.  

Ihr Vater Hermann, Jahrgang 1899, war in den Morgenstunden des 29. Mai 1952 mit weiteren Groß Grabenstedtern zu Sicherungsarbeiten an der Demarkationslinie verpflichtet worden. 11 Uhr war Schluss damit. Es hieß, er soll sein Hab und Gut verpacken. 13 Uhr rollten bereits die Lkws für den Abtransport der Einwohner ins Dorf.

Margit war zu dem Zeitpunkt auf der landwirtschaftlichen Berufsschule in Salzwedel, ahnte nicht, was im Dorf geschah. Am Nachmittag des 29. Mai besuchte sie in der Kreisstadt noch das Kino, als plötzlich ihr Name ausgerufen wurde. Vor dem Lichtspielhaus stand die Tante und erzählte ihr, was vor sich ging. Weinend machte sie sich auf den Weg nach Groß Grabenstedt. Begleitet von der Angst, dass sie ihr Heimatdorf zum letzten Mal sehen würde. Während die meisten Platz auf den Lkws fanden, fuhr Margit hinten auf dem Krad der befreundeten Bauernfamilie Meyer zum Bahnhof Ellenberg, wo es für sie in einen Güterwagen mit Stroh ging. Teile der Familie, die außerhalb des „umzusiedelnden“ Sperrgebietes wohnten, verabschiedeten sich am Waggon. In Salzwedel, wo es erstmals etwas zu essen gab, ging es in einem Personenwaggon weiter.

Zielort der unfreiwilligen Reise war Delitzsch in Sachsen, wo sie am 30. Mai 1952 ankam. Vor Stunden bewohnte die Familie noch ein großes Gehöft, nun waren sie ungebetene Gäste in einer kleinen Notwohnung. Kein Herd, kein fließendes Wasser. Für die Delitzscher war die Familie unerwünscht. Sie wussten nicht, was vor sich ging, dachten, man hätte ihnen Gesetzesbrecher oder Grenzgänger in den Ort gebracht. 1953 steckte das DDR-Regime ihren Vater sogar ins Gefängnis. Begründung: Er hätte Waffen im Groß Grabenstedter Anwesen gehabt – eine Lüge, sagt Margit. Drei Jahre war er dafür inhaftiert, ehe die Familie 1959 in Eilenburg eine neue Heimat fand.

So hart das Schicksal auch in Groß Grabenstedt zuschlug, Trübsal blasen ist nicht die Natur der Neulings. Die letzten beiden Bewohner des Ortes haben sich arrangiert und fühlen sich wohl. Jürgen Neuling geht in der Landwirtschaft auf. Angusrinder und Pferde sind seine Liebe.

Und auch wenn er keine Nachbarn um sich hat, langweilig wird es ihm gewiss nicht. „Auf einem Hof in der Größe ist immer was zu tun“, sagt er. Nur eben in den Wintermonaten kann es schon einsam werden. Wenn Dunkelheit den Tag bestimmt.

„Ich freue mich schon wahnsinnig auf den Frühling“, sagt er. Wenn die Felder blühen, die Vögel zurückkehren. Apropos Vögel: Tiere gibt es in dem naturnahen Landstrich reichlich. „Ich sehe bei meinen Spaziergängen mit unserem Schäferhund Eisvögel und fast immer Rehe – die kommen richtig nah“, sagt Dorothee Neuling. Und überhaupt: „Wir leben unglaublich gern in der Natur.“ Und genau diese wollen die beiden Altmärker, die 1991 von Wallstawe zurück zum Familiensitz nach Groß Grabenstedt zogen, ihren Enkelkindern näher bringen. Mit dem Nachwuchs wird es auch nicht langweilig.

„Wir haben zwei Töchter und vier Enkelkinder, außerdem gute Freunde“, sagt Jürgen Neuling. An Sozialkontakten mangelt es ihnen nicht. „Wir sind gern bei guten Freunden in Andorf oder Rockenthin“, ergänzt seine Frau. Auch Internet haben sie. Wenn auch nicht bahnbrechend schnell, „für uns reicht es“, sagt Jürgen Neuling. Selbst ein Hausarzt ist im Nachbardorf Hennigen. Nur ohne Auto geht halt nichts, sagen beide. Dorothee Neuling muss damit zur Arbeit nach Clenze. Eingekauft wird oft in Salzwedel.

Ob das letzte Gehöft von Groß Grabenstedt erhalten bleibt, wird die Zukunft entscheiden. „Ich weiß nicht, ob meine Kinder den Hof übernehmen werden“, sagt Jürgen Neuling. Drängen wird er sie gewiss nicht. Bis dahin werden Dorothee und Jürgen Neuling die Geschichte von Groß Grabenstedt bewahren, als die letzten Einwohner des Dorfes.