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Mauertote Ein Fall mit Signalwirkung: Staßfurter an der Grenze erschossen

Von Enrico Joo 16.04.2021, 14:32

Staßfurt

Es ist 17.45 Uhr am 6. August 1977. Früher Abend. „Stuj!“ soll der tschechoslowakische Grenzsoldat gerufen haben, was soviel wie „Halt!“ oder „Stehen bleiben“ heißt. Milan P. gibt einzelne Warnschüsse ab. Teils in die Luft. Teils in die Richtung des flüchtenden Mannes, der von der tschechoslowakischen Seite in die Bundesrepublik Deutschland gelangen möchte. Gerhard Schmidt reagiert nicht. Er durchtrennt bei Broumov sieben Signaldrähte, schleicht durch den jetzt offenen Zaun und gelangt in die zweite Grenzzone. Ehefrau und drei kleine Kinder folgen aus dem Versteck im Gebüsch in den nahen Wald und zur Straße in Richtung Staatsgrenze zur BRD. Auf der anderen Seite liegt Mähring in Bayern im Landkreis Tirschenreuth, 80 Kilometer von Bayreuth entfernt. Milan P. rennt hinterher. Wieder soll der Grenzsoldat „Stuj!“ gerufen haben, bevor er wieder in die Luft schießt.

In 70 Meter Entfernung bleibt der Grenzsoldat stehen, stellt nach eigenen Angaben seine Maschinenpistole auf Einzelfeuer und schießt. Zweimal. Der erste Schuss geht daneben, nach dem zweiten stürzt Gerhard Schmidt zu Boden. Drei Grenzwächter leisten erst nach einiger Zeit Erste Hilfe. Der schwer blutende Gerhard Schmidt wird ins Krankenhaus Planá nahe Pilsen gefahren. Doch trotz Notoperation an Lunge und Zwerchfell stirbt Gerhard Schmidt gegen 19 Uhr im Krankenhaus.

Mit gerade einmal 38 Jahren wird er beim Versuch, in die BRD zu flüchten, erschossen. Auf der Suche nach einem besseren Leben musste er sein Leben lassen. Eine Frau verliert ihren Ehemann. Zwei Söhne im Alter von zehn und sieben Jahren sowie eine Tochter im Alter von fünf Jahren verlieren ihren Vater, der vor ihren Augen erschossen wird.

Bereits der zweite Fluchtversuch

Es ist nicht der erste Fluchtversuch. Am 6. September 1976 versucht Schmidt in der Nähe von Cheb (Eger) die Grenze zur BRD zu überschreiten. Er wird 20 Meter vor der Staatsgrenze aufgegriffen. Eine Verhandlung dazu gab es nicht. Danach beantragt das Ehepaar Schmidt die erfolglose Ausweisung in die BRD. Das Ministerium für Staatssicherheit überwacht in der Folge die Familie sowie Nachbarn und Arbeit. Seit 1961 war Schmidt Parteimitglied der SED, wurde aber 1965 ausgeschlossen. Unter anderem soll er es missbilligt haben, dass die DDR keine Wiedervereinigung mehr anstrebt.

Das Forschungskonsortium „Eiserner Vorhang“ von der Freien Universität Berlin hat den Fall Gerhard Schmidt gründlich aufgearbeitet. Mehrere Dutzend Fälle sind bisher seit 2018 veröffentlicht worden. Bis zu 450 weitere Fälle von Opfern der SED-Diktatur sind in Bearbeitung.

Die Liste der Todesopfer ist lang. Mindestens 140 Menschen sind an der Berliner Mauer ums Leben gekommen. 2017 präsentierte der Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin eine Studie über 327 Tote an der innerdeutschen Grenze, seien es Flüchtlinge, Grenzer oder Suizidfälle. Dazu kommen noch Menschen wie Gerhard Schmidt. Er reiste in die Tschechoslowakische Republik und wird so in den deutschen Statistiken gar nicht erfasst. Neuere Forschungen gehen davon aus, dass es auch an der deutsch-tschechischen Grenze bis zu 450 zivile Todesopfer gab.

Entschädigung in Höhe von knapp 1300 Euro

Gerhard Schmidt kam aus Staßfurt. Hier lebte er von 1966 bis 1977 mit Frau und Kindern. Überregionale Bekanntheit erlangte der Fall Ende Januar dieses Jahres. „Tschechien hat erstmals der Hinterbliebenen eines getöteten Grenzflüchtlings aus der DDR eine Entschädigung ausgezahlt“, heißt es in der kurzen Mitteilung einer Agentur. Die Tochter von Gerhard Schmidt bekam 33.740 Kronen zugesprochen, umgerechnet knapp 1300 Euro.

Neela Winkelmann bezeichnet diese Summe als „lächerlich niedrig“. Gleichwohl sei der juristische Erfolg ein Durchbruch, der Signalwirkung haben könnte. Winkelmann war von 2011 bis 2018 geschäftsführende Direktorin der Plattform für das Gedenken und Gewissen Europas (Platform of European Memory and Conscience).

Im Jahr 2014 wurde das Projekt „Justice 2.0“ ins Leben gerufen, dessen Managerin Winkelmann derzeit ist. Ziel ist die späte Gerechtigkeit für unverjährbare Verbrechen des Kommunismus. „Hierzu zählen wir das Töten von Flüchtlingen am Eisernen Vorhang außerhalb Deutschlands, welches seit 1989 praktisch überhaupt nicht juristisch aufgearbeitet wurde“, so Winkelmann.

Den Fall Gerhard Schmidt bezeichnet sie als einen von fünf Signalfällen. „Wir haben 2016 beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe Strafanzeige gegen die tschechoslowakischen Täter gestellt. Seitdem laufen strafrechtliche Ermittlungen, es gibt ein gemeinsames deutsch-tschechisches Ermittlungsteam“, sagt die Tschechin Winkelmann. Die Staatsanwaltschaft Weiden und das Landeskriminalamt München beschäftigen sich mit dem Fall. Doch obwohl gemeinsam ermittelt wird, dauert die juristische Aufarbeitung. „Der Fall wird von tschechischer Seite verschleppt. Es wurden Beschuldigungen gegen drei älteste Täter erhoben, dann wurde das Verfahren eingestellt. Es passiert nichts“, so Winkelmann.

Das Problem ist hausgemacht. „In Deutschland wurde die deutsch-deutsche Geschichte relativ zügig aufgearbeitet. Wir konnten schon 1992 wieder in die Archive hinein“, erzählt Jochen Staadt. Er ist der Leiter des Forschungskonsortiums „Eiserner Vorhang“ von der Freien Universität Berlin. „Mit großem Aufwand wurde alles neu aufgerollt. Damals wurde aber entschieden, dass nur Fälle in Deutschland aufgearbeitet werden. In den Ostblockstaaten wurde noch nichts untersucht, weil das die Beziehungen belastet hätte.“

So passierte auch im Fall Gerhard Schmidt lange nichts. 1995, 2001 und 2008 wurden Ermittlungen in Deutschland, der Slowakei und Tschechien eingestellt. Seit Ende 2017/Anfang 2018 ermittelt die Staatsanwaltschaft in Weiden. Am 5. Mai 2020 wurde Gerhard Schmidt juristisch rehabilitiert. „Am 25. Mai 2020 sprach das Bezirksgericht Tachov beim Regionalgericht Pilsen die Familie Schmidt bezüglich des gemeinsamen Fluchtversuchs von jeder Schuld frei. Den beiden Söhnen und der Tochter Gerhard Schmidts sprach das Außenministerium der Tschechischen Republik am 28. Januar 2021 eine Entschädigung von insgesamt 100.000 Kronen (rund 3600 Euro) zu“, heißt es in dem Bericht des Forschungskonsortiums „Eiserner Vorhang“.

Kaum personeller Austausch in Tschechien

Doch was ist mit den Tätern? Was ist mit dem Todesschützen Milan P., der damals Anfang 20 war? Was ist mit den zwei weiteren Grenzsoldaten in der Nähe des Tatorts vom 6. August 1977? Was ist mit den Vorgesetzten in der kommunistischen Partei?

Neela Winkelmann winkt verbal ab. „Von den drei ältesten Tätern ist einer gestorben - der letzte Generalsekretär der kommunistischen Partei - und die zwei übrigen legten ein Attest vor, dass sie an Alzheimer leiden“, sagt sie. Nur: „Das Attest wurde von einem Militärarzt erstellt, der in den 1980ern Mitglied der Kommunistischen Partei war und von der Staatssicherheit zum Geheimnisträger für höchste Staatsgeheimnisse bestimmt wurde. In Tschechien ist es bis heute nicht gelungen, die Juristerei zu erneuern. Alle Richter vom alten Regime wurden übernommen, genauso wie Mitglieder der Polizei und Staatsanwälte. Die Ermittler sind immer noch die gleichen wie vor 25 Jahren und zeigen keinen Willen, die Aufarbeitung in Gang zu bringen. Es wird ausgesessen. Das ärgert mich. Man wird müde. Von den Offizieren oder den Innenministern war kein Einziger vor Gericht.“

Der Mörder von Gerhard Schmidt kam straffrei davon, weil laut der Generalstaatsanwaltschaft der Slowakei der Fall verjährt sei. In der CSSR wurde Milan P. am 8. August 1977 bescheinigt, dass er keine andere Möglichkeit gehabt habe, als zu schießen. Die Tat sei gerechtfertigt. Der Todesschütze sowie zwei weitere beteiligte Grenzsoldaten bekommen Uhren und Freigang.

Dabei waren Gerhard Schmidt und seine Familie weit davon entfernt, die Bundesrepublik zu erreichen. Die Grenze lag noch zwischen 1000 und 1600 Meter weg, die Schmidts waren weit von der dritten und letzten Grenzzone entfernt. „Es ist sehr unwahrscheinlich, dass es die Familie überhaupt über die Grenze geschafft hätte. Das war auch der Grund für die Rehabilitierung“, sagt Jochen Staadt von der Freien Universität Berlin.

Die Familie Schmidt war mit dem Zug angereist. Die Ehefrau betrat mit zwei Kindern legal das Gebiet der Tschechoslowakischen Republik. Gerhard Schmidt und der älteste Sohn gelangten illegal über die Grenze. Im Dorf Boží Dar kam die Familie wieder zusammen. Über Karlovy Vary (Karlsbad) und Mariánské Lázne (Marienbad) fuhr die Familie am 6. August 1977 weiter bis nach Broumov im Bezirk Tachov. Danach lief die Familie vier Stunden durch den Wald. Die Familie hatte eine Landkarte, zwei Kompasse sowie eine Kneifzange dabei. Als Gerhard Schmidt die erste Zone vor der Staatsgrenze erreicht hatte und den Signalzaun kappte, löste er Alarm aus. Der Grenzsoldat Milan P. rückte in 250 Metern Entfernung mit der Maschinenpistole heran.

Nachdem Gerhard Schmidt nach der Schussverletzung zusammengebrochen war, lief die Familie zu ihm. Frau und Kinder wurden einen Tag nach der Tat am Grenzübergang Schönberg in Sachsen dem Ministerium für Staatssicherheit übergeben. Die Witwe wurde inhaftiert, die Kinder kamen in ein Heim. Unter Druck gab die Witwe an, dass sie in der DDR zufrieden gewesen und nicht in den Westen geflohen wäre. Der Ehemann habe aber gedroht, notfalls allein zu gehen und den ältesten Sohn mitzunehmen. Die Familie kehrte nach Staßfurt zurück. Hier starb die Witwe am 4. September 1998.

Verhandlung von 50 Fällen in Tschechien und Slowakei

Der tschechische Anwalt Lubomír Müller aus Prag vertritt vor Gericht die Familie Schmidt. Er arbeitet in Zusammenarbeit mit der Plattform „Justice 2.0“ die Fälle nach umfangreichen Recherchen ab. Um die 50 Fälle hat Müller bei Gerichten der Tschechischen und der Slowakischen Republik sowie bei Justizministerien beider Länder mit Erfolg abgeschlossen.

„Der Fall von Gerhard Schmidt ist der erste Fall in der Tschechischen Republik, in dem das Kind eines an der Grenze erschossenen Flüchtlings entschädigt wurde. Es ist also ein Präzedenzfall“, sagt Lubomír Müller. „Es ist ein Erfolg, dass das Justizministerium der Tschechischen Republik den wesentlichen Anspruch anerkannt hat. Ein Misserfolg ist aber die Höhe der gewährten Entschädigung.“ Ob der Fall Gerhard Schmidt bei der Aufarbeitung in der Geschichte Tschechiens hilft? „Ich denke schon“, so Müller. Eine Aufarbeitung sei nur teilweise betrieben.

Über 60.000 Anträge auf Rehabilitation

Aber es bewegt sich etwas. Am 17. März 2021 wurden Dirk Jungnickel und Arnulf Ehrlich rehabilitiert, die 1965 und 1968 an der Staatsgrenze ermordet wurden. Die erste Rehabilitation gab es im März 2017 in der Slowakei. Der am 10. Februar 1968 geborene und in Magdeburg lebende DDR-Bürger Hartmut Tautz wurde rehabi-litiert. Tautz versuchte am 8. August 1986 aus der Tschechoslowakei nach Österreich zu fliehen. Grenzsoldaten entdeckten ihn und ließen Hunde los. Tautz wurde zerfleischt. Wenige Stunden später starb der 18-Jährige.

In Sachsen-Anhalt ist die Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur Ansprechpartnerin für Bewohner des Landes, die unter der SED-Diktatur gelitten haben. „30 Jahre nach der Deutschen Einheit sind viele SED-Verfolgte hinsichtlich ihrer gesundheitlichen, sozialen und finanziellen Situation erheblich schlechter gestellt als die Vergleichsbevölkerung“, heißt es im Tätigkeitsbericht der Aufarbeitungsbeauftragten Birgit Neumann-Becker. Die Behörde steht auch im Kontakt mit der Tochter von Gerhard Schmidt. Auf Volksstimme-Anfrage lässt die Tochter mitteilen, sich wegen der seelischen Belastungen nicht äußern zu wollen.

„In Sachsen-Anhalt haben 63.587 Frauen und Männer Anträge auf Rehabilitierung gestellt, weil sie Anerkennung für einen rechtsstaatswidrigen Eingriff des SED-Staates in ihr Leben erlangen wollten. Mehr als 20.000 Anträge wurden bewilligt“, teilt Neumann-Becker weiter mit. Dazu gab es in Sachsen-Anhalt bisher 400.000 Anträge auf Akteneinsicht beim Bundesbeauftragten für Stasiunterlagen in Außenstellen in Halle und Magdeburg.

Aufarbeitung ist ein Marathon und kein Sprint

Schätzungen gehen von etwa 250.000 politischen Häftlingen in der DDR aus. „Viele Betroffene klagen nicht nur über körperliche Schädigungen, sondern auch über die psychischen Folgen. Dazu gehören Angstattacken, Misstrauen gegen andere und insbesondere auch staatliche Stellen, denn gerade diese haben dazu beigetragen, den Einzelnen zu demütigen“, sagt Anna Kaminsky, Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Trotzdem ist in 30 Jahren auch viel passiert. „Wenn wir uns vor Augen führen, wie die Ausgangssituation vor über 30 Jahren war, dann sind wir ein gutes Stück vorangekommen: In Ost wie West gibt es die gleichen demokratischen Rechte - und niemand kommt mehr ins Gefängnis, weil er gegen Maßnahmen der Regierung protestiert“, so Kaminsky. „Auch wenn die letzte Diktatur in Deutschland schon über 30 Jahre zurückliegt, die Folgen spüren wir bis heute. Aufarbeitung braucht einen langen Atem: Es ist ein Marathon und kein Sprint.“